Barbie sei Dank
Ein Tagebucheintrag über das seelenlose Rennen auf der Überholspur in Richtung nirgendwo…
Nun sind sie weg und ich bin hier. Den Abschiedsschmerz spür ich immer noch in der Brust und das heiße Tränenwasser brennt mir weiterhin in den Augen. Wie sie mich ansahen, die Blicke aus Trauer und Freude, wie sie mich umarmten, als wäre es das letzte Mal, und wie sie in den Wagen einstiegen, als würden sie gleich darauf wieder hinausspringen wollen. Diese kurzen Momente graben sich tiefer und tiefer in mein Gedächtnis ein. Ebenso ein unwohles Bauchgefühl und ich frage mich, ob diese Entscheidung wirklich richtig war. Alles steht so still. Dabei fängt jetzt alles neu an, komplett neu, so richtig babyfrisch neu, als würde zum ersten Mal die Sonne aufgehen. Ich höre das Ticken meiner Wanduhr. Sonst passiert nichts. Tick tack. Ein- und Ausatmen. Blut zirkuliert weiter und weiter. Alles so automatisch und ohne ein bewusstes Eingreifen meinerseits. Egal, was ich mache, die Welt dreht sich, wie sie will und wie sie muss, für immer. Ich sitze hier am Tisch und wie der Planet, dreht sich auch in mir alles. So bin ich tierisch nervös beim Gedanken an die kommenden Tage und spüre, wie der Drang zum Erbrechen immer größer wird. Bin ich bereit? Bin ich all dem, was auf mich zukommen wird, ehrlich schon gewachsen? Wie Goethes armer Tor, steh (oder sitze) ich da, fühl mich leer und begreife nicht, was gerade mit mir geschieht. Die vergangenen Tage, ja Jahre, flogen Maverick mäßig blitzschnell an mir vorbei und nun bin ich hier. Bruchlandung. Bombeneinschlag, volles Rohr rein in den Boden der Tatsachen. Ähnelt dem Gefühl einer verdammt eisigkalten Dusche. Und was erwartet mich nun hier auf dem Neuland? Die ersten Tage meines alleinlebenden Lebens. Die erste Zeit im neuen Lebenskapitel. Der nächste große Schritt in Richtung Erwachsenwerden. Hilfe… fühl mich wie Tom Hanks in "Cast away". Bloß ohne Volleyball Wilson. Verdammt… Bin ich wirklich bereit? Will ich das hier überhaupt? Kann ich das alles? Was, wenn ich versage? Kann ich dann wieder zurück? Gibt es dann ein zurück? Unsere große Kugel kann sich ja auch nicht einfach anders drehen. Oder soll das hier so sein? Her je, sie fehlen mir jetzt schon. Wieder sehe ich es vor mir, wie sie einsteigen und wegfahren, ohne mich. Denn ihr Leben ist jetzt ein Leben ohne mich. Mein Leben wird jetzt eins ohne sie werden. Will ich das? Kann ich das? Denn ich war doch immer nur mit ihnen. Was und wer bin ich ohne sie, ohne mein Zuhause? Wenn ich nicht mal das beantworten kann, wie soll ich dann Schritt für Schritt nach vorne gehen? Da merk ich schon, man muss das Hinfallen wohl in Kauf nehmen, wenn man sich auf den eigenen Weg machen will. Okay, nun dann wird mein erster Schritt morgen sein, in die Drogerie zu gehen und das Pflasterregal leer zu räumen, um wenigstens etwas gewappnet zu sein. Könnte man sich ein Lebens-Handbuch kaufen, wie genial wäre das. Wobei, ich und das Lesen von Gebrauchsanweisungen… pfiff, das geht schon auch ohne. Kann ja nicht so kompliziert sein. Aber das Leben ist ja kein Ikea Schrank. Also schön, dann wird sich morgen nach dem Pflastereinkauf auf die Suche nach Wilsons gemacht. In einer so großen neuen Stadt, da lässt sich doch bestimmt die Art von Menschen finden, die einem wie bunte Lichterketten das Leben angenehmer und schöner macht. Und wer weiß, vielleicht fliegt das Zuhause-Gefühl so schnell wie nur möglich und ohne Zwischenstopp auf den 500 Kilometern zu mir und findet sich in meiner Seele wieder ein. So, dass ich mich hier an diesem neuen Ort wieder wie mein altes/richtiges/wirkliches Ich fühlen kann. Denn niemand anderes möchte ich lieber sein und nicht anders soll mein Wesen sein als so, wie sie mich alle kennen. Und wie ich mich selbst kenne. Trotz des neuen Kapitels.
Lange ist es her und nach so einigen vergangenen Jahreszeiten blicke ich erschrocken und verzweifelt auf diese Seiten in meinem Tagebuch. Denn vergleichend und rückschauend zu sehen, wie ich war, was ich dachte und wie ich sein wollte, macht mich unglaublich trübsinnig. Die, die ich war und die, die ich mir damals so stark zu erhalten gehofft hatte, die bin ich schon längst nicht mehr. Wie sich meine Welt auch gedreht haben muss, wie zur damaligen Zeit kreist sie definitiv nicht mehr um ihre eigene Achse. Nein, wenn ich überhaupt noch eine Achse besitze. Im Purzelbaum machen und Radschlagen scheint mein Inneres unbesiegbar zu sein. Nonstop immer weiter, ob es mir dabei gut geht oder nicht, völlig egal. Immer weiter, immer höher, immer besser. Und wehe, ich falle und werde schlechter. Was mir von diesem Tagebuch-Ich geblieben ist, das scheint der Anteil an Heimweh zu sein. Der zugegeben auch exponentiell weiter in mir wächst. All die Fragen, ob es der richtige Weg sei, die schwirren mir viel stärker durch den Schädel als je zuvor. Diese ganzen Gefühle und Gedanken erschweren mir den Alltag und wie man es gelernt hat, sucht man eben bei Problemen nach Antworten. Ich höre also tief in mich hinein und greife nach einem von den großen Dornen in meiner Seele, die mich permanent stechen und piksen. Es ist ein Selbstzweifel-Dorn, den ich da raushole und betrachte. Ein Dorn, der mich fragt, wer ich eigentlich sei und der immer dann zusticht, wenn ich von meinem wahren ehrlichen Ursprungs-Ich abweiche. Aber wie wahr und ehrlich kann man denn zu sich selbst sein? Gerade dann, wenn man überhaupt nicht auf dem Schirm hat, wer man eigentlich ist. Tja, kein Wunder, dass der Herr hier immerzu sticht. Und die Pflaster sind mittlerweile verbraucht.
Maria Ward sagte einst "Zeige dich, wie du bist, und sei, wie du dich zeigst.". Wie schwer diese einzelnen Wörter umzusetzen sind, das wird mir mit jedem weiteren Tag klarer. Ich such also nach Antworten. In Google eingeben "wer bin ich?", nein danke. Was wird dann die KI bloß von mir denken! Stattdessen komm ich bei meiner Grübelei vom Stöckchen zum Hölzchen, gebe den Begriff "Halbwahrheit" ein und werfe einen Blick in den guten Duden hinein: "Aussage oder Ähnliches, die zwar nicht falsch ist, aber auch nicht vollständig den Tatsachen entspricht, einen Sachverhalt nicht vollständig offenlegt". Damit komm ich der ganzen Problematik schon etwas näher. Nicht vollständig offengelegt, ja so fühle und empfinde ich oft. Das liegt daran, dass ich in so unzähligen Situationen mein verdammtes Maul nicht aufreiße, um zu sagen, was ich denke. Nein, ich halt die Gosche, schweige, lasse alles über mich ergehen und wundere mich dann, dass mein innerer Dornengarten in voller Blüte aufgeht. Erbärmlich! Müde und bedrückt von dieser Erkenntnis leg ich mich hin, knips den Laptop an und beschließe, in die heile Welt von Barbie einzutauchen. Natürlich in einen von den einzig wahren und alten 2000er Barbie Filmen hinein und nicht in diesen Blödsinn von heute. Mit den singenden Stimmen von Annelise und Erika gelange ich in den folgenden 85min zu einer weiteren Erkenntnis. Gegen Ende heißt es "Manchmal bedeutet frei zu sein nicht zu gehen, sondern zu bleiben". Mein Herz und Hirn schlagen Alarm. Die ganze Zeit hatte ich den Gedanken, körperliche sei gleich mit seelischer Freiheit. Aber dem ist nicht so. Jedenfalls nicht dann, wenn es um mein Heimweh Problem geht. Körperlich in den eigenen vier Wänden zu sein, nicht mehr bei den Eltern zu wohnen, eigenes Geld zu verdienen, sich selbst zu ernähren, die Welt alleine bereisen und sehen zu können. Immer dachte ich, dass das allein die große Freiheit sei. Aber dabei fehlt ja ein wichtiger Teil. Nämlich die Freiheit, mit sich selbst leben zu können. So, dass es der Seele gut geht. So, dass man sich aufgehoben fühlt, ob allein oder mit einem weiteren Menschen. Tja, und dieses Empfinden habe ich eigentlich immer bei meiner Familie und in meiner "natürlichen" Umgebung gehabt. Hätte ich dann doch einen anderen Weg gehen sollen? Ist meine aktuelle Route die Falsche? Das "Wenn möglich, bitte wenden" muss ich wohl überhört haben.
Unentschlossen von alledem klapp ich den Laptop zu und verschränk die Arme vor der Brust. 2764-mal habe ich diesen Film gesehen und erst jetzt denk ich so richtig darüber nach, rekapitulier die einzelnen Szenen, wobei mir die nächste Einsicht ins Hirn schießt. Auch Erika ist eine Zeit lang einen anderen und neuen Weg gegangen. Allein, nur für sich reiste sie durch die Welt und kam nach einer Zeit wieder zu ihren Liebsten zurück. An den Ort, wo alles begann. Das schenkt mir gerade hellstrahlende und wärmende Hoffnung. Denn ich weiß, dass es auch für mich so einen Ort gibt. Auch wenn viele Kilometer zwischen uns liegen. Diese Sichtweise schneidet mir in dem Moment wie eine Heckenschere alle stechend schmerzenden Empfindungen klein, so dass ich das Gefühl eines innerlich freien Atmens habe. Wie wundervoll!