Da tanzt die Seele

12.02.2024

Ein Tagebucheintrag über das Kinderspiel "mein rechter, rechter Platz ist frei", das plötzlich viel mehr als nur ein Spiel ist… 

Mit rosa, erhitzten Bäckchen sitze ich im Club auf dem hohen Barhocker neben ihm und inhaliere sein ganzes Wesen. Die Strahlung seiner Körperwärme, das Licht aus seinen hinreißenden bärenbraunen Augen heraus und der liebliche männliche Duft vernebeln mir die Sinne. So sehr, dass ich meine eigentliche Höhenangst total vergesse – ja, ein verdammt hoher Barhocker! Eine besondere Art von Anziehung ist da zwischen uns, die sich tief in mich hinein brennt. Wo einem die Luft stehen bleibt, wo einem das Sprechen versagt, wo einem heiß und kalt zugleich ist, wo man weinen könnte vor Glück, wo man sich frei und sorglos von allem fühlt, wo die Welt für einen Moment lang nicht existiert, wo alles so richtig schön scheißegal ist. So lebendig habe ich mich selten gefühlt. Die Scheinwerfer schwenken rhythmisch, in lila und rosa Farben ihr Licht durch den dunklen Raum und mit einem Mal läuft der Song, zu dem ich mir schon Jahre vorher immer meinen ersten Kuss vorstellte. Dann schaut er mich plötzlich mit großen Augen an, streckt mir seine rechte Hand hin, die ich mit meiner linken nur allzu gern umschließe und er führt mich auf die Tanzfläche. Händehaltend tappe ich hinter ihm her, wobei mir die Körperkoordination fürs Gehen absolut versagt. Liegt bestimmt an seinem perfekt sitzenden, weißen Hemd, das ich von hinten betrachte und das seinen Schulter- und Rückenbereich göttergleich präsentiert. Zum niederknien! Stopp, nein, du musst jetzt tanzen, konzentrier und reiß dich zusammen! Selbstverständlich sind mir in dieser Lage die Discofox Schritte nicht mehr bewusst, aber das spielt gar keine Rolle, denn er führt unglaublich gut. Wir blicken uns kein einziges mal richtig in die Augen. Wie auch, ein dunkler Raum und ich bin vielmehr auf meine Füße fixiert und schaue wie eine verdammte Anfängerin auf die Schrittfolge. Dennoch ist es der innigste Moment, den wir je hatten. Ich spüre ihn so nah an und bei mir. Gut, dass wir keinen Tango tanzen! Ein Körperkontakt dieser Art hätte den schwersten Herzinfarkt in der Geschichte der Menschheit ausgelöst! Nein, dann doch besser der kerzengerade, etwas steife Standardtanz mit minimaler Sauerstoffaufnahme. Und wie so oft zählte dieser Tanz zu den wunderbarsten und gleichzeitig kürzesten Momenten in meiner bisherigen Lebenszeit…

Schweigebadet und noch halbkeuchend geh ich rein in die Umkleide, zieh mich aus und wandere mit brennenden Füßen zur Damendusche. Nie wieder Ausdauertraining, denk ich mir jedes Mal, wenn ich dann auch noch spüre, wie sich die Blasen an den Füßen hinterhältig und scheiß freundlich ankündigen. Mit dem wieder aufgerichteten Blick sehe ich sie dann plötzlich. Hatte gar nicht gemerkt, dass noch jemand in der Umkleide war. Es ist die sehr nette und auch wirklich hübsche Frau, die mich jedes Mal freundlich anlächelt und mir einen Guten Morgen wünscht, wenn wir uns im Studio begegnen. Schon lange trainieren wir zur gleichen Zeit und es tut einfach gut, mit ihr in die Tage zu starten. Doch noch nie war ich auch gleichzeitig mit ihr in der Umkleide oder in der Dusche. Nackt neben ihr zu stehen, lässt mich plötzlich etwas fühlen, was mir zuvor nicht bewusst war. Ich spüre eine starke intime Anziehungskraft zu ihr. Es ist, als würden wir uns berühren, als würden unsere Seelen sich die Hand geben. Die Wärme des Wasserstrahls, der massierend auf meine Haut prasselt, intensiviert diesen außerordentlich innigen Moment nur noch mehr. Ein Gefühl der Geborgenheit durchzieht mein ganzes Wesen von Kopf bis Fuß und ich hätte noch ewig so nackt neben ihr stehen können, ganz ohne Berührungen, Worte oder Augenkontakt. Lebendiger hätte mein Inneres jetzt nicht sein können. Ein Hoch auf den Ausdauersport! Auf dem Nachhauseweg allerdings kommen mir dann merkwürdige Fragen hoch, die sich teils als Selbstzweifel verkleiden. Steh ich jetzt auf Frauen? Bin ich jetzt bisexuell? Wie erklär ich das nur den anderen? Was hat das alles zu bedeuten? Da läuft man kilometerweit, um den Kopf freizubekommen und dann will der Mistkerl auch noch Karussell fahren. Na, danke auch! Dieses Gedankenchaos habe ich echt nicht nötig. Ich steige aus dem Bus, atme tief ein und denke mir, so und du machst dir jetzt keinen Kopf darüber, du genießt einfach die wohltuenden Nachklänge dieses Augenblicks. Das Mantra klappt dann auch eine Zeitlang, doch frage ich mich auch noch Tage danach, warum auf einmal diese, durchaus auch körperliche Hingezogenheit zu einer Frau, die ich nicht wirklich kenne? Wer bin ich eigentlich und was will ich wirklich im Leben?...

Diese winzigen Minuten, die lebenslänglich wie ein Echo durch Körper, Hirn, Seele, Herz und Magen schallen und dich dann daran erinnern, dass du Mensch bist. Ein Mensch, der fähig ist, zu lachen und zu weinen, zu schreien und zu singen, zu tanzen und zu lieben. Ein Mensch, dessen Herz nur ihm allein gehört, aber dennoch einen freien rechten Platz für einen weiteren Menschen hat, um gemeinsam die Kirsche auf der Lebenstorte zu genießen. Ein Ich aus einer Haut, die wie ein Fusionspunkt für Liebe jeglicher Art wirkt. Wie schwarz wäre meine Welt ohne körperliche Zuneigung, Nähe und Anteilnahme. Ob mit freundschaftlicher, mentaler oder leidenschaftlich sexueller Energie beladen, Berührungen prägen mein Leben auf eine Art und Weise, wo ich mir danach immer denke, so und wie dunkel es auch sein mag und wie schrecklich es werden könnte, ich bin nicht allein und ich habe Menschen um mich herum, deren Menschlichkeit und Liebe wahre Tankstellen sind. Wo die Seele sich zuhause fühlt, da gehört sie hin. Wo sie nackt und frei von allem sein kann. Ob sich dann jenes Zuhause bei Männern oder Frauen wiederfinden lässt, was spielt das für eine Rolle?!