Dementoren gibt es

03.04.2024

Und wenn Dornröschen stirbt, dann war der Dämon schneller als der Prinz…

"Genieß die Zeit, mein Kind, niemals wieder wirst du so frei sein". Diesen Satz kipp ich mir morgens am Frühstücktisch mit einem großen Schluck Kaffee auf nüchternen Magen runter. Noch im Aufwachmodus blick ich in die Augen meines Vaters, die leuchtend voller Hoffnung und Zuversicht strahlen und ich denke mir, wie viel Lebenskraft kann eigentlich in einem Menschen stecken? Als wäre sein Kanister niemals leer, haut mir Papa eine Lebensweisheit nach der anderen um die Ohren, was anfangs auch Wurzeln in mir zu schlagen scheint. Doch dann vergehen die Stunden des Tages und ich liege abends noch leerer als am Morgen und platt wie ein Seestern im Bett. Für nichts habe ich dann noch Energie, außer natürlich fürs unabwendbare Gedankenkarussell fahren. Alles wirbelt in meinem Kopf umher und mein über Tag verkrampfter Bauch versucht seine Spannungen loszuwerden, was die Übelkeit nur noch mehr fördert. Wie lang es her ist, dass ich friedlich eingeschlafen bin. Nicht mal die langsam entstehende und sonst so wohltuende Wärme unter der Bettdecke hilft mir dabei, einfach alles ruhen und entspannen zulassen. Scheinbar trennt sich mein Kopf in diesen Augenblicken so sehr von meinem Körper ab, dass mir die Selbstwahrnehmung ausbleibt. So schlägt die Erinnerung ans Atmen manchmal wie ein Blitz ein und ich frag mich, habe ich gerade überhaupt Luft ein- und ausgeatmet? Der Morgen danach ist dann auch nicht anders. Es wundert mich, dass ich nach dem nächtlichen Karussell und Achterbahnfahren beim Aufstehen nie umkippe. Auch in den Träumen geht es ziemlich wirr umher. Da hätte Freud einiges zu tun. Allerdings sind es weniger die Träume, die mich dann in der Früh beschäftigen. Die Akkustände von Körper und Seele sind es, die mir zusätzlichen Kummer bereiten. Denn sie fahren manchmal in einem solchen Tempo herunter, da bekomm ich ehrlich Panik. Ganz stark ist es, wenn ich im Café oder sonst wo in der Öffentlichkeit sitze und die normalen "gesunden" Menschen um mich herum beobachte. Wie können die alle einfach so leben? Hat da jemand mal eine Gebrauchsanleitung für mich? Unbefangen, lächelnd, voller Zorn oder mit nassen Taschentüchern im Gesicht gehen die Menschen an mir vorbei. Man könnte neidisch werden. All das empfinde ich garnicht mehr so intensiv. Gott, was ein emotionsgeladenes Wesen ich mal war. Freudvoll, lebensfroh und immer für jede Art von Spaß zu haben. Nun schau ich in mein Inneres. Nichts. Leere. Nur ein großes Wollknäuel bestehend aus Vorwürfen, Wut und Trauer. Ich ärgere mich sehr darüber, denn meinen Mitmenschen gegenüber ist diese Veränderung einfach nicht fair. Wie sehr ich damit Freunde und Familie verletze, das macht mich rasend. So sehr, dass ich mir morgens das Brot mit Selbsthass beschmiere und nicht mit Selbstliebe. Ich fühle durchaus noch etwas und nehme auch wahr, doch nur noch das, was das Gemüt in seiner dunkelsten Gestalt erscheinen lässt. Früher hat mir das Dunkle und Böse immer gefallen. Jeder Superschurke hatte so interessante und aufregende Seiten an sich und sah auch meistens viel cooler aus. So unglaublich Kim Possible durch die Lüfte springen konnte, die düstere Shego wollte ich sein. Tja, das war einmal. Jetzt hüpft hier nichts mehr durch die Gegend und wenn, dann landet es sofort mit einem comichaftem Platsch auf dem Boden. Und so fühl ich mich schon seit einer viel zu langen Zeit. Es lässt sich nicht anders beschreiben, aber irgendwann muss ich den Seele-aussaugenden-Dementor wohl geküsst haben. Und es sieht so aus, als hätte ich da einen ganz schön anstrengenden Lover. Seine kalte dunkle Gestalt und sein rasselndes unheimliches Atmen nehme ich immerzu wahr. Er begleitet mich, wo ich auch bin. Selbst an die Orte, wo ich weiß, hier finde ich Liebe, Freundschaft und Wärme. Nein, er bleibt an mir kleben. Und wenn er über mich kommt, bleibt wirklich nichts als eine leere Hülle übrig. Wie verdammt nochmal mach ich Schluss mit dem Typ?!

"Das ist alles in deinem Kopf, mein Kind. Wenn du ein Problem mit einer Sache hast, ändere deine Einstellung dazu". Und der nächste Schluck Kaffee an jenem Morgen, wobei mir allmählich bei den philosophischen Auftritten meines Vaters der ein oder andere Shot Vodka lieber wäre. Vielleicht könnte ich damit all das besser verstehen, was Papa mir auf liebevolle Art und Weise versucht klarzumachen. Aber es muss auch ohne gehen und so versuch ich herauszufinden, wo der Schuh drückt. Wenn ich beispielsweise in meinen Gedankenpalast eintauche, dann kommen mir vor allem Sorgen, Ängste und Zweifel entgegen und stehen wie die Butler in Downton Abbey kerzengerade und einsatzbereit vor mir. Sie sind oft so enorm breitschultrig und riesengroß, dass mir die Sicht auf das schöne Hausinnere versperrt bleibt. Doch selbst wenn mir der Eintritt in mein Inneres gewährt wird, so ähnelt es nicht unbedingt dem britischen Palast. Mag vielleicht ein erschreckendes und verstörendes Bild sein, aber es sieht vielmehr nach der heulenden Harry Potter Hütte aus. Kalt, verlassen, grau, staubig und teils zerfallen. Das Fundament besteht dabei aus angesammelten Zukunftsängsten, betonschweren Sorgen und Holzwurmartigen Selbstzweifeln. In diese Hütte gelange ich immer, wenn das Lernen und Arbeiten für die Uni unerträglich stressig wird, wenn ich mich nach meiner Familie und Heimat sehne oder wenn ich merke, das funktioniert hier alles nicht so beziehungsweise es ist nicht so perfekt geworden, wie ich es wollte. Es scheint, als gäbe es keinen Umweg und keine Abkürzung, um diese Hütte zu umgehen und auch keine Raststätte, wo ich mal Pause machen könnte. Meinem Fahrlehrer würde der Hut hochgehen, wenn er wüsste, wie beschissen ich mich immer wieder da hineinmanövriere. Eine erneute Übung in Vollbremsung würde mir sicherlich guttun… momentmal, das ist es! "Es ist alles in deinem Kopf", ich selbst regle die Ampelschaltung, das Tempo auf den Straßen und die Auslegung von Tankstellen. Ich selbst bestimme, ob ich diesen beladenen Sorgen/Kummer/Angst-LKW in die Einfahrt reinfahren lasse oder nicht. Scheint doch garnicht so schwer zu sein. Oder?

Naja, jeder Mensch kennt das Gefühl, wenn man plötzlich den ehemals geliebten Menschen gegenüber auf der Straßenseite sieht. Dieser Schlag gegen den Magen und das Ausbleiben des Herzschlags, wie könnte man das jemals vergessen. Und so ist es mit meinem schwebenden, dunkel düsteren Geliebten, der geil auf den Raub meines Verstandes und meiner Gefühle ist und hartnäckig an mir dranbleibt. Täglich grüßt der Dementor kann ich da nur sagen. Und wenn er mich begrüßt, dann versagt in mir alles. Aber was lernen wir von Harry und seiner Zauberwelt? Es bestehen zwei Optionen: entweder ich verwandle mich in ein Tier, denn deren Gedanken und Gefühle können Dementoren nicht wahrnehmen, oder ich wende den Patronuszauber an, also eine Verknüpfung aus glücklicher Erinnerung, Holzstäbchen und dem lauten "Expecto Patronum!". Nun, Magie und Tierverwandlung fallen leider Gottes weg, wäre ja auch zu schön gewesen. Bleibt die glückliche Erinnerung. Toll… da steh ich aber immer noch dumm herum, denn woher die Erinnerung an was Positives, wenn die Kraft dazu fehlt? Fühlt sich an wie damals, wenn man keine Ahnung im Matheunterricht hatte und wie ein Esel vor der großen grünen Tafel steht. Angstschweiß pur! Aber hey, jetzt reiß dich am Riemen! Irgendwas muss das Abi doch gebracht haben. Beim Überlegen bemerk ich den lieblichen Kaffeegeschmack im Mund. Und Schwupps fährt die schöne Erinnerung an das Frühstücken mit Papa mit Vollgas über die rote Ampel. Diese Gemütlichkeit, die wir teilten und die Zeitlosigkeit an diesem Morgen. Herrlich! Da lach ich dem Dementorchen doch gleich eins ins Gesicht. Festhalten an den kleinen schönen Dingen. Mm, ist ja ähnlich wie puzzeln! Na, wenn das so ist, dann bekomm ich mit Sicherheit aus den Puzzle Stücken der vergangenen 22 Jahre ein umwerfendes und farbenfrohes Bild hin.