Dicke Autos ja, aber doch bitte keine dicken Frauen!
Ein Bericht zur Lesung im Literaturhaus München über Daniela Dröschers Roman "Lügen über meine Mutter". …
Dienstagabend in der Münchner Innenstadt: ein Raum bestehend aus zahlreichen Frauen verschiedenster Generationen, Mindsets und Lebensgeschichten: Mütter mit ihren Töchtern, Freundinnen, Schwestern, Großmütter mit ihren Enkelinnen und Book-Club ähnelnde Frauengruppen. Eine spürbar harmonische und galante Atmosphäre, auf den Gesichtern erkennbare Vorfreude. Vereinzelt treten auch Männer aus diesem "Frauenrudel" hervor, die ihren Begleiterinnen zurückhaltend zur Seite stehen oder stumm im Programmheft blättern. Was all diese Frauen zusammenführt, beschäftigt und eventuell auch selbst betrifft, bündelt sich in dem Roman "Lügen über meine Mutter" von Daniela Dröscher, die ihr Werk an diesem Ort vorstellt, anlässlich der Simone de Beauvoir Ausstellung im Literaturhaus München. 90 Minuten lang widmet sich die Autorin im Gespräch mit Viola Schenz der weiblichen Körperlichkeit und Selbstbestimmtheit zu, sowie der Selbstermächtigung von Frauen im Kampf gegen die männlichen Erwartungen und Vorbehalte an das Frausein. Für einen perfekten Frauenabend hätte nur noch Sekt gefehlt.
Der autofiktionale Roman spielt in einer deutschen Provinz in den 80er Jahren und beschreibt die Lebenssituation der kleinen Ela, welche die ständige Diskriminierung und Verachtung des Vaters gegenüber dem Körpergewicht der Mutter mitbekommt. Für das Oberhaupt der Kleinfamilie sind gesellschaftliches Ansehen und beruflicher Aufstieg existenziell und in seiner übergewichtigen, ihm in Bildung und Klasse überlegenen Ehefrau, sieht er eine potenzielle Gefährdung für sein Idealbild. Der Alltag besteht aus Streitigkeiten über Geld und das Körperbild der Mutter, das ihr permanent vor Augen geführt wird. Ihre Leistung als Ehefrau, Mutter und Schwiegertochter richtet sich nach der Meinung des Ehemannes. Die Wahrnehmungen der kleinen Tochter werden täglich mit idealisierten weiblichen Schönheitsbildern infiziert. Das junge Mädchen schwankt im Roman immer wieder zwischen den Rollen einer Geisel und Komplizin: sie versucht an einigen Stellen ihre Mutter aufzuheitern, ertappt sich jedoch beim Anstarren dieser, vergleicht im Schwimmbad die anderen Frauenkörper mit dem ihrer Mutter, beginnt sich für sie zu schämen, schämt sich daraufhin selbst für ihre Scham und entwickelt Schuldgefühle. Ein Teufelskreis, der die Zuhörer*innen nicht unberührt lässt. Ganz getreu der Natur eines Kindes, nimmt Ela die angespannten Verhältnisse wahr, kann die Situationen und psychologischen Ausmaße für die Mutter nicht deuten und flüchtet daraufhin in ihre Scham- und Schuldgefühle. Seit dem Umzug von der Großstadt ins Dorfleben leidet die Mutter an ihrer Gewichtszunahme und Ela glaubt, sie sei der Grund dafür, denn sie sollte doch nahe der Natur großwerden.
Die Schriftstellerin erzählt, sie habe sich bewusst für die kindliche Erzählperspektive entschieden, um die eignen Empfindungen bezüglich ihrer Kindheit zu kanalisieren und so die Scham "erwachen" zu lassen, die die kleine Ela weder verstehen noch deuten kann. Die Fiktion sei für sie ein Instrument zur Selbsterkenntnis gewesen. Zudem sei dies sowohl für sie selbst als auch für ihre Mutter ein wichtiger Schritt gewesen, die vergangenen Geschehnisse zu realisieren und zu verarbeiten. Trotz des sehr persönlichen Werks erzählt die Autorin in aller Ruhe und mit einem Schmunzeln auf den Lippen, wie wichtig es für das Verhältnis zwischen ihnen beiden war und berichtet über die Freude der Mutter, dass sich Frauen heutzutage viel mutiger und selbstbewusster zeigen, als sie es damals war. Hat sich also das Frauenbild aus den 80er Jahren bis heute gewandelt? Oder tappen wir immer noch gebeugt, eingeschüchtert oder verängstigt den "männlichen Werten" hinterher?
Wie einst die französische Schriftstellerin Simone de Beauvoir sagte: "Man kommt nicht als Frau auf die Welt, man wird es.", wird in diesem Roman klar und deutlich gezeigt, wie es um die weibliche Selbstbestimmung und -ermächtigung in einem Patriarchat steht. Egal wo wir hinsehen, in Politik, Wissenschaft, Wirtschaft, Familienstrukturen und Erziehung, Sexualität oder Geschlechterverhältnisse, ja sogar bei der individuelle Identitätsbildung, überall schleicht sich eine tiefgreifende Verinnerlichung der männlichen Erwartungen an Frauen ein, bis heute noch.
Aus dem Gespräch zwischen Dröscher und Schenz zeigen sich besonders die Problematiken von Schamgefühlen, vor allem deren Missbrauch durch die (Werbe-) Industrie. Hierbei äußern die beiden Frauen, dass Scham im Prinzip nur Frauen zugeschrieben werde, denn wer spräche schon über einen "Prostata-Scham", wenn es doch den guten alten "Periodenscham" gibt. Allerdings dürfe man nicht vergessen, dass Männer ja auch einen gewissen Gefühlsanteil haben, der nicht nur Hass, Wut und Aggression beinhaltet. Die Gesprächspartnerinnen erklären sich die Trauer des Vaters, persönlich und beruflich nicht anerkannt zu werden, als eine Art soziale (männliche) Scham.
Hierbei wurde mir eins plötzlich ganz deutlich: das Machtpotential der Industrie, laut derer wir ja alle in falschen und hässlichen Körper leben und durch die wir tagtäglich an unseren Körpern herumnörgeln. Direkt am Anfang eines neuen Jahres schlägt die Keule der Werbebranche zu und konfrontiert Herz, Hirn und Seele mit Anzeigen für dreimonatiges kostenloses Training im Fitnessstudio gleich um die Ecke, überschlägt das Gewissen mit den besten Neujahrsvorsätzen und den 10 effektivsten Diäten. Wer Ende Januar dann immer noch nicht genug hat oder, Gott bewahre, noch nicht auf den Zug in Richtung "Happy-me-happy-life" aufgesprungen ist, der hat ja noch ab Februar die Chance, sich von der traditionellen Fastenzeit einnehmen zu lassen. So, don´t worry, you will be thin and healthy! Soll das etwa die großartig aufgeklärte neue Welt sein?
Blicke man zurück, so Dröscher, lasse sich erkennen, dass all die (Körper-) Ideale unserer Gesellschaft sich primär auf Frauen beziehen und mit enormem perversem Druck auf diese einwirken. Soweit, dass Mütter täglich Unterdrückung und Missbilligung ihrer Partner ertragen, dass junge heranwachsende Mädchen über Kloschüsseln hängen für den einen Sommer in der einen perfekten Bikinifigur. Dass selbstständige Frauen sich schämen, ja sich vielleicht sogar selbst hassen, wenn sie Geldverdienen anstelle der "natürlichen" Aufgaben von Müttern nachkommen. Im Publikum, nickende Köpfe.
Weshalb tragen Frauen dieses Vermächtnis der ewig weiblichen Perfektion über Generationen hinaus mit sich mit? Warum lässt die Mutter von Ela all die Wut und Verzweiflung des Ehemannes über sich ergehen, wenn sie doch die Möglichkeit einer ökonomischen Unabhängigkeit hat? Bezüglich der Mutterschaft ist das Motiv recht einleuchtend: Sie tut es aus Liebe. Die Kinder sollen doch in guten, beständigen heterosexuellen Familien groß werden und nicht in verkorksten Lebensverhältnissen von Alleinerziehenden oder homosexuellen Beziehungen. Ich beobachte, wie die Frauen um mich herum sich die Hand geben und als sprächen sie im Geiste miteinander: "Mir erging es auch so. Du bist nicht allein.". Ein zugleich herzerwärmendes wie -zerbrechendes Gefühl.
Laut vieler Rezensionen ist Daniela Dröschers Roman ein Werk, dass man lieben und hassen kann. Die kleine Ela packt Herz und Verstand, rüttelt daran und wartet darauf, dass Emotionen wie Wut, Hoffnung, Begeisterung oder Trauer emporkommen. Wir fühlen mit und nicht nur, weil wir Frauen, Mütter, Töchter, Ehemänner oder Freunde sind, sondern weil wir Mensch sind. Sowohl die Autorin als auch ihr Roman ergreifen die Aufmerksamkeit ihrer Rezipienten*innen und regen sie zum Nach- und Überdenken der Gegenwart an. Eine ergreifende Geschichte, die einem die nackte "dicke" Wahrheit über Gewalt zwischen den Geschlechtern ins Gesicht schlägt. Auf dem Nachhauseweg fühl ich mich leer, geerdet und trotz allem stolz, Frau zu sein. Wo bleibt der Sekt!?