Ein leichtfüßiges Herz

11.03.2024

Ein Tagebucheintrag über die Art von Erinnerungen, die sich auf ewig in die Seele einbrennen…

Es war nicht auszuhalten. Überall saßen und standen Menschen um mich herum, ohrenbetäubende Gespräche schallten durch den eigentlich angenehm großen Raum, der aber mit jedem weiteren Personeneintreten zum kleinen Käfig wurde und dann auch noch dieses Hyänenartige Lachen der älteren Dame einen Tisch weiter von unserem. Verstört und verängstigt versuchte ich mich auf irgendetwas zu konzentrieren. In ein paar Minuten sollte die Seenotrettungsübung anfangen, wobei ich gedanklich schon an den Sprung von Bord dachte. Nichts wäre mir lieber gewesen. Zwanghaft starrte ich auf den Boden, um alles um mich herum so gut wie möglich auszublenden. Noch nie zuvor hatte ich Probleme mit einer Menschenmenge. Was war da nur los mit mir? Die Fragezeichen wirbelten durch meinen Schädel und auch das Croissant im Magen begann im Einklang mit dem leichten Wellengang sich hin und her zu schwingen. Von meinen Füßen hoch schaute ich zu meiner Mama, die ganz begeistert die letzten Zeilen in ihrem Kindle las und zu meiner Schwester, die sich über den Sicherheitsmann in der grell gelben Schwimmweste amüsierte. Wie ferngesteuert bewegte sich mein Kopf ein Stück weit nach Steuerbord und dann plötzlich trat er in Erscheinung. Groß und aufrechtstehend, in einer wie angegossen und perfekt sitzenden beigen Hose, die linke Hand in der Hosentasche und in einem leuchtend hellblauen Hemd, stand er in voller Pracht zu mir gerichtet mit seinem Achilles ähnlichem Körper. Zwar waren seine Haare und Augen braun und nicht wie die von Brad Pitt strahlend hell, aber dennoch, er verzauberte mich. Wäre neben mir eine Bombe hochgegangen, ich hätte es nicht mitbekommen. Mir versagten dermaßen die Sinne und alle anderen Körperfunktionen, wie gut, dass ich auf einem Stuhl saß! Unsere Blicke trafen sich. Für Normalsterbliche wäre dieser Augenblick vielleicht nur ein oder zwei Sekunden lang gewesen, aber für mich fühlte es sich nach einer Ewigkeit an. Diese Wärme, die durch meinen ganzen Körper schoss, das Bauchziehen, das bis nach oben an meine Kehle reichte und mir die Luft zum Atmen abschnürte, all das auf einmal und mit einer Gewalt, die ich davor noch nie verspürte und die ich niemals wieder vergessen würde. In mir war in diesem Moment ein Feuer entfacht, das alles niederbrannte. Nie fühlte ich mich so lebendig, wobei ich von außen betrachtet mit Sicherheit jeder Leiche Konkurrenz bot. Stocksteif, kalkweiß, flachatmend und mit weitaufgeschlagenen Augen schmolz ich dahin. Und auch noch jetzt beim Aufschreiben fällt es mir schwer, kontinuierlich und gleichmäßig zu atmen. Es war das erste Mal für mich, dass ein reales männliches Wesen mein Herz höherschlagen ließ. So sehr, dass ich kurz dachte, all die Jahre zuvor ewig wie Dornröschen geschlafen zu haben. Und hätte er mich wie im Märchen tatsächlich geküsst, dann hätte es mit Sicherheit den ersten Todesfall an Bord gegeben. Ganz ohne Eisberg und sinkendem Schiff. Aufgeschreckt und wiederbelebt durch die sanfte Berührung meiner Mama bemerkte ich, dass das Schwimmwestenmännchen schon mitten in seiner Vorführung steckte und die Geräuschkulisse um mich herum abgeklungen war. Danach marschierten alle hoch an Deck, um den stundenlangen Vorgang des Ablegens anzuschauen. Ich muss gestehen, es fiel mir selten so schwer, von einem Stuhl aufzustehen. Meine Beine glichen monsterschweren Mehlsäcken, mein Kopf- und Nackenbereich war total verkrampft und die Technotanzenden Schmetterlinge im Bauch quälten mich ohne Ende. Und trotzdem war ich definitiv der glücklichste Mensch an Bord! Die Fahrt ging los und es war eine so beflügelnde Vorstellung, mit diesem wunderschönen Fremden zwei Wochen lang auf einem Schiff eingesperrt zu sein. Nichts da mit "Mann über Mord!", sondern vielmehr ein großes Ahoi zu der Schiffreise meines Lebens!

Noch jetzt spüre ich die frische Prise vom kalten Frühlingswind, der mir frühmorgens ins Gesicht wehte. Es war der Morgen nach der ersten Nacht bei ihm. So aufrecht und breitgrinsend stolzierte ich durch die Straßen. Alle mir entgegenkommenden Leute schauten mich so komisch und merkwürdig an. Der eine hätte mir auf seine morgenmuffelige Art und Weise wahrscheinlich am liebsten eine geknallt oder andere hätten viel eher den Notruf gewählt, denn mit der Kleinen kann doch irgendwas nicht stimmen. Und ich hätte ihnen zugestimmt. Mit mir war etwas geschehen, das ich selbst nicht verstand. Aber darauf pfiff ich. Diese Lebendigkeit, die durch mich hindurch strömte und die jede einzelne Faser meines Körpers zum Beben brachte, war es wert! Mein Herz trommelte dabei schneller als John Bonham jemals seine Sticks hätte schwingen können und aus meinem Bauch sprudelte ein unbekanntes Machtgefühl heraus. Irgendwie war es ein Miranda Moment, nur leider ganz ohne Prada. Als wäre ich die Königin der Welt gewesen, der alles und jeder unterlegen ist. Dabei war ich es, die in den vergangenen Stunden, die meiste Zeit unter jemanden lag. Oh, wie unfassbar schön es bei ihm war! Zum allerersten Mal so berührt und geküsst von jemanden zu werden. Nie hätte ich gedacht, dass es solche Nachwirkungen mit sich bringt. Es war ein wahrer Dracula Moment: mit viel Schwung und mit einem Übermaß an Leidenschaft stieg ich aus dem Sarg hervor, in dem ich bis zu diesem Zeitpunkt fest zu schlummern schien. Als ich in die WG reinkam, überfielen mich große Augen, weitgeöffnete Münder und fassungslos begeisterte Gemüter. Bei Kaffee und dem frischsten Gebäck des Tages erzählte ich ihnen alles und war von mir selbst völlig überrascht und beeindruckt zugleich. Was hat mich bloß dazu getrieben, an jenem Abend einfach so mit ihm zu sich nachhause zu gehen, planlos und völlig spontan? Was es auch war, ich war froh, diese Erfahrung gemacht zu haben. Ich sah die Welt an diesem Morgen mit ganz anderen Augen und mit einem neuen Denken ging ich durch dieses Wunderland, das sich mir eröffnete. Wie Simba, der in König der Löwen das Lied "oh ich will jetzt gleich König sein" singt, marschierte ich erhobenen Hauptes durch den Tag und hätte jeden und alles knutschen können!

Auch noch lange Zeit danach überrascht es mich immer wieder, was Berührungen und einzelne Begegnungen alles auslösen können. Augenblicke, die einen gefühlt sowohl abstechen als auch heilen und jedes Mal spielt die eigene Haut eine so große Rolle. Es bleibt zwar alles auf der Oberfläche, doch wie viel geht einem tagtäglich wirklich unter die Haut, brennt sich wie ein glühendes Eisen in das Herz hinein und bleibt ewig in einem stecken. Besonders die Momente vollkommender Leidenschaft, sexueller Hingabe und Liebe sind es, die das eigene Leben auf vielfältige Art und Weise prägen. Diese schicksalshaften Situationen erscheinen mir wie das Topping beim Joghurt mit der Ecke: ein kurzer Knick und schon hat man das I-Tüpfelchen in seinem Leben. Wenn jedoch der Joghurt abgelaufen ist und das Herz nicht mehr leichtfüßig Salsa tanzt, dann kommt der Moment, wo man am liebsten sowohl das Milchprodukt als auch das eigene Leben in die Tonne werfen will. All die lebensbejahenden Erinnerungen verkrümeln sich hinter den schwarzen Vorhang, sodass es mir manchmal als unmöglich erscheint, jemals wieder glücklich zu sein oder an die lebensfrohen Momente zu glauben. Doch dann begegne und umarme ich jemanden, fühle die Körperwärme eines anderen Menschen, lache mit meinem Gegenüber und entfache damit selbstständig den Lebensfunken in mir. Was wären unsere Geister ohne diese selbst schaffende innere Kraft? Was würden unsere Seelen bloß ohne ihre Haut fühlen und was wäre die Welt ohne die vielen Formen von Liebe? Es wäre wohl ein Ort, ähnlich wie die abgrundtief dunkle und abflussgrüne Höhle, wo Scar und seine Hyänenbande nichts Besseres zu tun haben, als hasserfüllte Mordpläne zu schmieden. Nein, dann lieber eine Hakuna Matata sonnige Landschaft, in der wir uns jederzeit auf die Erinnerungen besinnen, die uns am Leben halten. 

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