Dieser "Leben und Leben lassen" Mist

08.01.2024

Ein Tagebucheintrag über das Sushi Menü Nr. 4 mit einer extra Portion an Schuldgefühlen. …

Liebes nichts,

jeden Tag spüre ich, wie sehr mich die Außenwelt BEEINFLUSST und wie sehr ich das jedes Mal zulasse. Gerade die negativen Dinge springen mich regelrecht an, werfen ihren Anker aus, der sich festsetzt am Grund meiner Seele. Sie BEEINFLUSSEN dann mein ganzes Wesen, von Kopf bis Fuß, ununterbrochen und nachhaltig. Ich bin mitfühlend, manchmal zu viel und mir selbst gegenüber wahrscheinlich zu wenig. Anderen etwas Gutes tun, ihnen beizustehen, mit ihnen leben und leiden, darin kann ich mich schon sehr hineinfressen, doch vergesse ich mich selbst dabei. So bleibt meine Existenz von Schuldgefühlen nicht verschont. Für alles und jeden schein ich Verantwortung zu tragen, jedenfalls rede ich mir das oft ein. Da fällt mir das Sushi ein…

Ich saß ihm gegenüber an einem Tag, an dem für alle die Sonne schien bei luftig lockeren 24 Grad. So strahlte auch er, hinreißend in dem weißen Polohemd, dessen obere zwei Knöpfe geöffnet waren und sie es somit zuließen, dass sein Parfüm am Hals mir bei jedem Windstoß die Sinne nur noch mehr vernebelte. Für mich war es ein weiterer Tag, dessen Sonnenlicht nicht dunkler hätte scheinen können. Meine Seele fror und hätte sich am liebsten zuhause in eine dicke, von Menschen schützende Decke verkrochen – die kalte Sushi Platte vor mir machte die Situation nicht besser, obwohl Essen und gerade Sushi immer ein Seelenpflaster für mich waren. Aber jetzt komm schon du schwarzes Wölkchen, du warst ja verabredet und eine Absage hätte ihn doch traurig gestimmt… Und Schwupps, schon sitz ich da im sumpfigen Loch meiner Schuldgefühle – stumm, unmotiviert, angewidert von mir selbst, lustlos, traurig, wortkarg. Ich sah, wie angestrengt er versuchte, diese dunkle kühle Wolke ihm gegenüber zu vertreiben und mir ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern. Wenn das so leicht wäre, ich würde nur noch mit einem Zauberstab aus der Tür gehen! Hat jemand die Kontaktdaten der guten Fee von Cinderella?! Ach, Mist… Datenschutz.

Ich saß ihm gegenüber, hörte ihm zu, nahm aber kein einziges seiner Wörter wirklich auf. Ein wahres Abbild von "Augen auf und Ohren auf Durchzug". Jedenfalls so lange bis ich vernahm, dass er sagte, er fühle sich einsam. Wumms, der Tritt gegen meinen Magen und kurz das Gefühl in mir, die letzte California Roll hätte es sich anders überlegt und in den Rückwärtsgang geschaltet. Er? Er fühlt sich einsam? Wie bitte? Wir sehen uns doch regelmäßig, auch wenn es mir wie jetzt nicht gut geht. Fühlt er sich deshalb einsam? Liegt das jetzt an mir? Oh nein, okay, ich muss lächeln. Jetzt komm schon, zieh die Mundwinkel nach oben, mach schon! Aber halt mal, er hat doch auch noch seine Freunde und Familie. Es dreht sich nicht alles um mich. Es liegt nicht an mir… oder? Was kann ich jetzt für ihn tun? Mehr Zeit für ihn einplanen? Oh man, das stresst mich aber schon wieder und wir waren uns doch einig, nur Freundschaft mit dem gewissen Plus… was gehört denn da nochmal alles zu? Wo ist die Grenze? Was kann ich alles für ihn tun und ab wann ist es zu viel für diese Art von Freundschaft?  Dabei weiß ich ja, dass er lieber mehr will…

Schon reißt mich der Gedankenfluss mit und zieht mich in die Tiefe von unerträglichen Schuldgefühlen. Der Mensch vor mir BEEINFLUSSTE mich insoweit, als dass ich mit dem Empfinden nachhause ging, ich sei schuld an seinen Einsamkeits-Gefühlen. Hinzu kamen die Zweifel an meiner Lebenseinstellung bezüglich fester Beziehungen, denen ich eher scheu und unwillig gegenüberstehe. Was habe ich dann in der S-Bahn zwischen knutschenden Teenagern und älteren händchenhaltenden Ehepaaren getan? Mich natürlich für mein schlechtes Benehmen, für meine Unaufmerksamkeit und mentale Abwesenheit bei dem Treffen im Restaurant entschuldigt. Und auch noch geschrieben, dass es dennoch ein schönes Date war - uff, Lügen geht manchmal so leicht, verdammt! Das einzig Schöne war das Gefühl, eine kleine Servierte auf den Beinen zu haben. Zwar keine dicke Decke aber immerhin… Ich schlief die berüchtigte Nacht darüber und schrieb am Tag danach in mein Tagebuch, dass ich endlich anfangen müsse zu reden, nachzufragen und direkt zu reagieren. So hätte ich ihn einfach Fragen sollen, ob meine Person oder unser Verhältnis diese Gefühle in ihm verursachen und mir nicht bloß still und heimlich meine Gedanken darum zu machen.

Liebes nichts, ich sehe mich und ich sehe die anderen. Ich weiß, was und wer mir guttut. Der Schlüssel zu diesem Problem, zu dieser Last, liegt im Miteinandersprechen. Ich muss genauer kommunizieren, mein Ich deutlicher in den Vordergrund stellen. Nur so denk ich, komm ich aus dieser magenzehrenden Sache heraus.

Der Eintrag ist eine Weile her und mir immer noch so deutlich vor den Augen. Jeder Gedanke und jedes Gefühl aus dieser Zeit spüre ich jetzt noch. Auch heute ist wieder so ein trüber und grauer Tag, der mit seinem dicken Elefantenfuß auf mein Gemüt drückt. Ich weiß immer noch nicht recht wie man denn nun "lebt" und wie man "andere leben lassen kann" und damit selbst leben kann. Manchmal steht mir dieses leben einfach bis zur Hafenkante und ich würde am liebsten die Segel hissen und davon flüchten. Bloß wohin? Und ich will das hier doch auch eigentlich garnicht aufgeben bzw. verlassen… Ich blick kurz hoch und raus aus dem Fenster auf die sich bewegende Teilchen. Vögel, Busse, Bäume, Menschen und so. Aus der Bluetooth Box ertönt Michael Bublés Version von That´s Life. Und da auf meinem Gesicht, ein zartes leichtes Lächeln.