Du willst doch auch
Ein Tagebucheintrag über das Ja-Nein-Vielleicht-Okay im Bett…
Wir trafen uns schon bei der U-Bahn Haltestelle, die nicht weit von seiner Wohnung entfernt war. Auch wenn ich ihm zuvor schrieb, dass er sich nicht extra für mich auf den Weg machen müsse, so bestand er doch darauf, dass wir uns dort treffen. Es war erfrischend und nett, diese kleine Geste von ihm. Dass jemand einem so entgegenkam, war ich gar nicht mehr gewöhnt. Nun ja, liegt womöglich daran, dass ich eher zum Entgegenkommen neige. Denn man will es doch seinem Gegenüber allzeit angenehm machen, oder? Ist das nicht der Sinn von Begegnungen? Sein erstes Hallo klang freundlich und munter und unsere erste Umarmung fühlte sich zart und beherzt an. Mir gefiel er. Ordentlich, höflich und locker. Genau das, was ich an diesem frühen Abend wollte. Auf dem Weg unterhielten wir uns über Alltägliches, dann mal plötzlich über was Philosophisches und kurz bevor wir ankamen, tauschten wir uns über unsere Ideen für den gemeinsamen Filmabend aus. Es überraschte mich, dass wir doch so viele Gemeinsamkeiten hatten. Seine Wohnung gefiel mir und sie spiegelte seinen Charakter irgendwie wider. Es war sauber, roch frisch und hatte eine stilvoll dezente Einrichtung. Seiner Aufforderung, ich solle es mir schonmal bequem machen, ging ich nach und setzte mich auf das Sofa. Decke und Kissen lagen schon alle parat und vor mir auf dem Tisch hatte er ein kleines aber gut proportioniertes Snack Buffet vorbereitet. Ich schmunzelte und mir stieg eine leichte Wärme vom Bauch zum Hals hoch. Er war so aufmerksam, gab sich wirklich erkennbare Mühe und das gefiel mir. Mit Getränken kam er in den Raum, forderte Alexa auf, das Licht leicht zu dämmen und setzte sich neben mich. Beim Anstoßen schauten wir uns freudvoll in die Augen, nahmen den ersten Schluck, platzierten uns auf dem Sofa, wobei er seinen Arm um mich legte und ich mit dem Ohr auf seiner warmen Brust seinen Herzschlag wahrnahm. Die Atmosphäre war zu keiner Zeit angespannt oder unangenehm und so tauchten wir in die fantastische Welt des ersten Hobbit Teils ein.
Er kraulte sanft meine Hände, strich mir zart und leicht kitzelnd über die Arme und ich fühlte mich sehr aufgehoben. So angenehm wertgeschätzt, von einem eigentlich noch unbekannten Menschen. Aber was definiert bekannt und unbekannt? Ich kann jemanden jahrelang kennen und doch das Gefühl in mir tragen, der ist mir fremd. Oder es kommen Situationen auf einen zu, wo man bestürzt ist, zu was ein eigentlich bekannter Mensch fähig ist. Oder man trifft jemanden und weiß sofort, der oder die ist es. Wie stark unsere Gefühlswahrnehmung das Leben doch steuern kann und auch ausmacht. Hier bei ihm, in seinen Armen und auf seiner Brust liegend, mit einer kuschligen Decke über den Beinen und den Film schauend, hier fühlte ich mich gut und geborgen. Bei anderen Dates wusste ich recht schnell, wie der Ablauf wohl aussehen würde. Teilweise stand es schon vor dem ersten Sehen fest. Allerdings wurden meine Vorstelllungen hier und da dann doch von der ein oder anderen netten Spontanität durchkreuzt. Stets war ich darauf eingestellt, auch Sex mit demjenigen zu haben. Das war auch immer mein eigener Wille und mein eigenes Verlangen. Deshalb traf ich mich mit den Dates. Eine vorherige Absprache nimmt deutlich den inneren Druck heraus, die Bauchkrampf-Nervosität wandelt sich in feuchte Fröhlichkeit um und man beschreitet den Weg zum Date mit begierigem Mut. Auch auf dieses Treffen hatte ich mich mit diesem Gedankengut eingestellt. Tja, und dann lief alles anders. Er war anders, als ich zuvor dachte, und dieses Mal hatten wir über Sex oder Ähnliches auch nicht vorher geschrieben. Ich folgte einfach dem klischeehaften Bild: Match auf einer Dating-App, erstes Treffen bei ihm mit einem "Film"-Abend. Na, ist doch logisch, dass gevögelt wird, oder?
Wie wir so dalagen, kreiste mir dieses "oder" immer wieder durch den Kopf. Besonders, wenn seine Finger auf meinem Arm eine Richtung einschlugen, die Auslöser für das Oder hätte sein können. Doch sehr lange galt unsere Aufmerksamkeit der unerwarteten Reise von Bilbo und hier und da mal den Getränken und Snacks. Mir persönlich hätte all das zu diesem Zeitpunkt vollkommen gereicht und ich wollte gar nicht mehr, ich wollte keinen Sex, was mich irgendwo erschreckte. Einfach nur bei ihm sein, an ihn gelehnt und die leichten Berührungen spüren, das war genug. Ich schmiss meine Einstellung über Bord, ließ mich auf dieses Neue ein, entspannte mich und nahm wahr, wie der Luftdruck in meiner Seele abnahm. Es war ein sich Fallenlassen, in fremde warme Arme. Ein gewisses Ankommen, eine plötzlich eintretende Ruhe, die mir deutlich machte, wie angespannt und gehetzt ich mich wochen- oder gar monatelang verhalten hatte. Dieses ständige Erfüllen von Erwartungen, meiner eigenen aber auch die der sozialen Umwelt, sowie das Hineinzwingen in gesellschaftliche Rollen bildeten sich zu einer dunklen Wolke über mir. Doch dieser Mann mit all seinen Bemühungen, einen gemütlichen Abend zu schaffen, schien wie ein starker Sonnenstrahl zu sein, der die Wolkendecke durchbrach. Ich fühlte Licht, Wärme und Ruhe. Kreisend strich er an meinem Oberarm entlang, hin zu meinem Hals und hoch zu meinem Kinn, das er mit Daumen und Zeigfinger griff, meinen Kopf so zu sich drehte und mich küsste. Er wollte doch mehr.
Ich ließ mich auf die Küsse und die Berührungen entlang meines Körpers ein. Dabei nahm ich wahr, wie sehr es ihn erregte. Sein Herz schlug heftig gegen die Brust und seinem Gesichtsausdruck entnahm ich, dass er sich sehr kontrollieren musste. Auch ließ ich mich von ihm ausziehen, bis auf die Unterwäsche. Er betrachtete mich, musste einen Moment lang innehalten und fuhr mit seinen Fingern unter mein Höschen. Mit seinem Mund an meinem linken Ohr flüsterte er mir seine Fantasien zu. Doch zum Zuhören war ich nicht recht in der Lage. Überwältigt von diesem Situationswechsel, gestresst von seinem plötzlichen Verlangen nach mehr und abgelenkt von der Hobbit-Geräuschkulisse, versuchte ich mich auf den Moment einzustellen. Doch ich konnte nur mühsam in den normalen Gang eines üblichen Tinder Dates schalten. Ob durch den Dirty Talk, den Berührungen an meiner Vulva oder durch seine Spucke, feucht wurde ich. Verhältnismäßig hatte ich nicht viel zum Liebesspiel beigetragen. Wie in einem Teenie Film lag ich die meiste Zeit auf dem Rücken und "ließ ihn machen". So lange war der eigentliche Akt dann auch nicht, denn es erregte ihn alles einfach zu sehr. Nach seinem letzten aufstöhnenden Stoß ließ er sich kurz direkt auf mir nieder und mein erster Gedanke war: geschafft, vorbei! Er drehte sich auf die Seite, legte seine Hand auf meinen Rücken und begann mich wieder zu kraulen. Er fragte mich, ob ich auch gekommen sei und er schien sehr enttäuscht, als ich dies verneinte. Noch ein Stück näher rückte er an mich heran, küsste meinen Nacken und die Schulter, seine Finger kreisten weiterhin meinen Rücken entlang. Der Abspann des Films war vorbei und wir gingen zusammen unter die Dusche. Normalerweise wäre ich laut Tinder Date Plan danach gegangen, war ja alles fertig, abgehakt. Doch er schob uns noch eine Pizza in den Ofen und fragte, ob wir nicht gleich mit dem zweiten Hobbit Teil weitermachen wollten. Hungrig und vom Pizzaduft benebelt willigte ich ein und wir machten es uns erneut gemütlich.
"Du bist dran. Du musst jetzt anfangen. Du musst jetzt wieder Lust haben." Die Gedanken des Zugzwanges schluckte ich mit jedem Bissen Pizza hinunter. Ich wurde das Gefühl nicht los, ich müsse ihm jetzt auch was Gutes tun, ich müsse mich jetzt revanchieren, ich müsse jetzt Lust auf Sex haben. Der wärmende Sonnenstrahl verblasste und über meinen entspannten und gelösten Himmel zog sich erneut eine dunkle Wolkendecke. Schnell fühlte ich mich wieder zurück in die reale Welt einer Frau versetzt, zur "Pflicht einer Frau" verpflichtet. Während sich Bilbo und die Zwerge von den Wäldern der Elben aus hin zur Seestadt der Menschen durchkämpften, massierte ich ihm den Nacken- und Schulterbereich. Er genoss es und mir schenkte es eine beruhigende Freude. Er meinte, dass noch keine andere Frau ihn bisher so angenehm danach massiert habe und das bestärkte mich in meinem Tun. Da schien es, dass all mein innerer Stress verschwunden war. Indem ich etwas für ihn tat, fühlte ich mich gut. Zwar unter Druck und gewissem Zwang, doch gut. Ich tue von Grund auf gerne etwas für meine Mitmenschen, schon immer. Allerdings scheine ich zu vergessen, bis zu welchem Grad man etwas für jemanden tun sollte. Irgendwann fiel mein Blick auf die Uhr. So spät war es schon geworden. Panik brach in mir aus. Wollte er, dass ich bleibe? War das ein Übernachtungsdate? Anstatt ihn danach zu fragen, wie er sich den weiteren Abend oder die Nacht vorstellte, ging ich der Kommunikation aus dem Weg und bemerkte mitten im Film an, dass ich mich langsam los machen müsste, um die S-Bahn noch zu bekommen. Ich hatte den Eindruck, er sei darüber etwas betrübt gewesen, doch hielt er mich nicht auf. Er gab mir die restlichen Pralinen mit auf den Weg, umarmte mich an der Tür und ich machte mich wie sonst auch mit einem leichten Gefühl auf den Weg. Nichtwissend, ob wir uns nochmal sehen würden.
Wir haben uns nicht noch einmal getroffen und nach diesem Treffen auch nicht mehr miteinander geschrieben. Warum nicht, weiß keiner. Fragt aber auch keiner nach und ich bedaure es nicht. Insgesamt war es ein schöner Abend und ich kehrte recht zufrieden wieder zurück. Doch, auch wenn diese Stunden bei ihm sich wie bei allen anderen Sex Dates anfühlten, so bleibt mir dieses Treffen doch recht stark vor Augen. Heute frage ich mich, ob das wirklich einvernehmlicher Sex war. Wenn er es nicht war, bleibt die Erinnerung mir deswegen so in der Seele stecken? Ich weiß, ich wollte keinen Sex, als es zu dem Moment kam. Ich hatte kein Lustempfinden, obwohl ich feucht wurde. Aber wäre das ein Argument? Für die Gegenseite sicherlich: "Hä wieso nicht? Du bist doch feucht, du trägst doch diese Unterwäsche, du hast mich doch bis hierhin rangelassen, also willst du das jetzt auch!" Was mich angeht existieren solche Sätze nur in meinem Kopf. Noch nie hat mir jemand all das ins Gesicht gesagt. Aber wie viele andere Menschen müssen solche Situationen erleben und ertragen! Wenn mir solche Bilder und Gedanken in den Kopf gelangen, erkenne ich immer wieder aufs Neue, was der wirklich wahre Schlüssel für alle Probleme der Menschheit ist: Kommunikation. Ja heißt Ja und ein Nein bedeutet auch Nein. Diese Aussagen sollten nicht hinterfragt werden, schon gar nicht im Kontext von sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität oder -Äußerung. So oft verspüre ich den Druck, mich rechtfertigen zu müssen. Kein Wunder, denn in der Schule musste man stets die eigene Meinung mit Argumenten belegen. Wenn nicht, Punktabzug. Das kann doch auf Dauer zu keiner gesunden Entwicklung und Weiterbildung von Generationen führen. Wenn Körper und Gefühle weiter als Diskussionsfelder dargestellt und betrachtet werden, dann kann es doch nur noch mehr zu körperlichen Gewalttaten und einer Zunahme von Hass kommen. Kein anderer weiß, was sich für meinen Körper gut anfühlt und was eher weniger. Nur ich allein kann das an meinem Körper fühlen. Und wenn ich es wahrnehme, dann muss ich es auch kommunizieren. Das entscheidende Mittel dafür, um überhaupt in den Kommunikationsraum einzutreten, ist das Maß an Mut und für diesen Mut macht unsere Gesellschaft keinen Platz. Ich muss immer wieder an die Worte von Cinderellas Mutter denken, die ihrer Tochter kurz vor ihrem Tode sagt "Sei mutig und freundlich". Wenn wir dies beherzigen würden, wenn wir mit diesem Gedankengut aufeinander zugehen und kommunizieren würden, dann hätten wir eine friedvolle Umgebung und ein menschliches Miteinander.