Eduard
Ein
Blick, eine Hand und nicht genug Vanille…
Sanft spielt der Straßenmusiker auf seiner Geige Melodien von Maurice Ravel, kleine Spatzen picken Brotkrümel vom Boden auf und es weht ein sanfter warmer Spätsommerwind über den Marktplatz. Eduard sitzt vor dem Siebziger-Jahre Café Louise an einem einzelnen Tisch, lässt die Sonnenstrahlen auf sein Haupt fallen und trinkt einen doppelten Espresso. Er hört den Klängen des Geigers zu, sieht hinüber zu den zwei kleinen Mädchen, die die Vöglein füttern und nimmt mit jedem Atemzug die farbfrohe Atmosphäre seiner Umgebung tief in seine Seele auf. Er riecht das Glück der Frischverliebten, die an ihm vorbeigehen. Er fühlt die wärmende Freude der alten Frau, die eine rote Rose von dem vor ihr knieenden Mann annimmt. Er hört den Spaß der drei jungen Burschen, die sich über die fantastischen Welten ihrer neuen Comics amüsieren. Er fühlt die Schönheit aller menschlichen Wesen, die an diesem Donnerstagnachmittag auf dem Platz zusammentreffen: junge und alte Menschen, rosarot auflebende, aber auch zerbrochene Herzen, gestresste und heitere Seelen sowie endliche und aufgeweckte Geister. Wie gern würde er all dies für die Ewigkeit festhalten können. Getrieben von dem inneren Druckgefühl, all das könnte gleich vorbei sein, zückt er die Kamera seines Großvaters aus der alten Ledertasche hervor, um einige wenige Fotos von seiner Umgebung zu machen. Wenigstens kleine Erinnerungsstücke will er festhalten. Denn schon morgen würde er die Stadt verlassen und wieder in den Sumpf des Alltags zurückkehren. Schon morgen würde ein anderer Wind wehen und schon morgen würden all die Seelen hier an diesem Ort nicht mehr dieselben sein. Nachdenklich legt er die Kamera beiseite. Würde er selbst morgen noch derselbe sein? Eduard greift nach dem kleinen Wasserglas, trinkt einen Schluck und sieht durch den Boden jenes Glases hindurch. Dabei nimmt er einen dunklen Schatten wahr, die Spiegelung einer fremden Gestalt, die sich am Tisch gegenüber von ihm niedersetzt. Sein Herz flammt in dem Moment auf, als er das Glas abstellt und die gottesgleiche Eleganz der schönen Fremden nun scharf sehen kann. Sie sitzt mit dem Rücken zu ihm, in einem weißen rückenfreien Sommerkleid. Ihre strahlend weiße Haut funkelt ihn an und hebt die Schönheit ihrer langen, schwarzen, geflochtenen Haare hervor. Passend zu ihrem luftigen Kleid trägt die Frau einen vornehmen Sonnenhut, der ihren nackten Hals und die freien Schultern vor dem Licht der Sonne schützt. Eduard zerfließt bei diesem Anblick. Sein Atem stockt, in seine Hände und Beine schießt eine Eiseskälte und aus seinem Bauch sprüht ein Feuer der Leidenschaft auf. Nie zuvor hat er solche Empfindungen durch seinen ganzen Körper hindurch verspürt. Noch immer hält er das Glas fest und scheint zu nichts anderem mehr fähig zu sein, als die junge Frau anzuschauen. Er überlegt gar nicht, wie wohl ihr Gesicht aussehen oder wie ihre Stimme klingen könnte. Es interessiert ihn nicht, wie ihr Name lautet oder woher sie kommt. Weder ihre Vorgeschichte noch der Grund für ihr Hiersein ist für ihn von Belang. Nur das Jetzt, das hier mit ihr, diese beiderseitige Unbekanntheit und die Fremdheit, mit all den lebenssprudelnden, inneren Gefühlsregungen. Wie ferngesteuert schwebt seine Hand vom Trinkglas zur danebenstehenden Kamera. Er greift diese, hebt sie an, setzt zur Aufnahme an, fokussiert den Rücken- und Nackenbereich der Frau und schießt ein Bild. Vollkommenheit… oh, wie sehr würde sein Herz fortan leiden müssen.
Dunkelheit überdeckt seine geschlossenen Augen und ein holzig, männlicher Tabakgeruch strömt ihm in die Nasenlöcher. Blinzelnd und aus seinem Ewigkeitsmoment herausgerissen schaut Eduard zu dem vor ihm stehenden Kellner auf. Ein schicker älterer Herr, der sich zu pflegen weiß. Sein strahlend weises Hemd ist von einem perfekt fusselfreien Jackett eingehüllt, seine akkurat gebügelte Hose sitzt exakt und die rote Fliege um seinen Hals schmeichelt den beherzten Gesichtsfalten. Ein Mann aus einer anderen Zeit, denkt Eduard. "Mein Herr, wenn Sie erlauben", beginnt er lächelnd und greift nach einem Teller auf seinem hochgehaltenen Tablett. "Hier, ihr mit extra Kokosflocken garniertes Pistaziencroissant sowie die zusätzliche Portion Datteln und Erdbeeren mit separater Vanillesauce. Darf es bei Ihnen noch etwas sein?" Eduard sieht verdutzt auf den Teller. So ein großes und künstlerisch wunderschön dekoriertes Croissant hat er noch nie gesehen. Der Duft des frischen Gebäcks zerbombt ihm augenblicklich all seine Geschmacksknospen und Speichel flutet ihm den Mund. Noch den letzten Funken Konzentration ergreifend, sieht er zu der daneben platzierten Obstschale und erneut hinauf in das Gesicht des weiterhin lächelnden Kellners. Er merkt fast schon stotternd an, er habe das Croissant garnicht bestellt. Dem älteren Herrn fällt jegliche Fassung aus dem Gesicht und mit weit aufgerissenen, meeresblauen Augen entschuldigt er sich und greift nach dem Teller. Plötzlich verdunkelt ein neuer herbeitretender Schatten den kleinen Tisch, das Croissant und die Datteln und beide Männer richten ihren Blick auf das Wesen, das diesen verursacht. Ihnen gegenüber steht die junge, hinreißende Frau mit Hut, die bis dahin einen Tisch weiter gesessen hatte und die für Eduard das Sinnbild göttlicher Ewigkeit und Schönheit war. Sie legt zärtlich ihre rechte Hand auf die linke Schulter des Kellners, wobei ihre rotlackierten Nägel in einem Ton mit dem seiner Fliege strahlen. "Überall würde ich diesen Geruch erkennen, nirgendswo anders gibt es ein Café, das solches Gebäck hervorzaubert. Bitte lieber Pierre, lassen Sie den Teller ruhig hier stehen, sofern der Gentlemen nichts gegen etwas Gesellschaft hat?" Und mit einem Mal wurde aus der Flutkatastrophe in Eduards Mund trockenste Wüste und sein Herz sank ihm rasend zu Boden. Fest versteinert und doch so lebendig gelöst wie nie zuvor schaut er der Frau ins Gesicht. Keine Wörter und keine Zeichnung der Welt würden diesem Anblick gerecht werden. Als stünde er der Mutter Erde Angesicht zu Angesicht. Absolute und wunderschöne Vollkommenheit. Eine Größe, die alles beherrscht, die alles mit Liebe ausfüllt, die Leben gibt. "Oh, Madame Alice, bitte verzeihen Sie mir meine Unaufmerksamkeit! Wie konnte ich ihr liebreizendes Wesen nur übersehen! Dabei weiß ich doch genau, dass niemand sonst Pistazie mit Kokosflocken bestellt." Nun richten beide ihre Blicke auf Eduard, der weiterhin wie ein heiß und zugleich kalt glühender Lavastein vor ihnen sitzt. Brennend, auf Kohle sitzend, fällt es ihm schwer, die sanften Klänge der weiblichen Stimme zu verarbeiten. Hatte er richtig vernommen, dass sie sich tatsächlich zu ihm setzen wollte? Doch noch bevor er zu einem Gedanken, geschweige denn zu einem ausformulierten Satz fähig war, stellt der Kellner bereits einen weiteren Stuhl dazu, auf dem die junge Dame graziös Platz nimmt. "Mir würde die Gesellschaft von einem Herrn wie Ihnen gerade sehr guttun", sagt sie und ihr bezauberndes Lächeln untermalt ihren überaus freundlichen Charme. Dabei verströmt sie mit ihrer Art weder lästige Aufdringlichkeit noch unangenehme Übergriffigkeit, die er sonst so vom weiblichen Geschlecht gewohnt ist. Wie oft musste er sich das Gegacker und Gequatsche von den Frauen aus seiner Familie anhören. Dabei philosophierte er oft über die Differenzen der Geschlechter und die doch so divergenten Lebens- und Verhaltensweisen. Das konnte doch alles nicht harmonieren. Nein, da bliebe er lieber für sich, in Ruhe und Frieden. Aber sie…diese Frau… Alice… nein, sie ist anders.
Ihr Gesicht verändert sich. Die Augenbrauen ziehen
sich behutsam nach oben zusammen, ihr wunderschönes Lächeln verblasst und ihre
aufrechte Körperhaltung scheint in sich einzusacken. Gerade als sie aufstehen
und um Verzeihung bitten will, greift Eduard nach ihrer Hand und spricht: "Nein
Madame, bitte, bleiben Sie doch gerne hier sitzen." Pierre, der immer noch auf eine
nächsten Bestellungswunsch wartet, überkommt ein leichtes Lächeln, während er
diesem zart beseelten und unschuldigen Aufeinandertreffen zweier junger
Menschen zuschaut. Alice sieht auf Eduards Hand und ihr freudiges Strahlen
kehrt zurück. "Darf ich Sie auf einen weiteren Espresso einladen oder möchten
Sie etwas anderes, vielleicht etwas kühlend erfrischendes?", fragt sie und aus
ihren Augen heraus funkelt ein Hauch von Erleichterung. "Nur allzu gern",
erwidert Eduard zurücklächelnd und bestellt bei Pierre zwei Gläser Chardonnay.
Eiligst geht der Kellner dem Wunsch seiner Gäste nach und tritt aus dem
Mikrokosmos von Eduard und Alice. Nah sitzen sie beieinander, schauen sich in
die Augen und lächeln schon fast um die Wette. Kein Laut durchbricht ihre
Atmosphäre, alles steht still… und seine Hand liegt immer noch auf ihrer. Sie
richtet ihre Augen auf den Tisch. "Wir scheinen beide eine Vorliebe für
Extraportionen zu haben", sagt sie und Eduard betrachtet daraufhin die
Kokosflocken auf ihrem Croissant und die Vanillesauce neben seinen Datteln und
Erdbeeren. "Was wäre das Leben ohne ein gewisses Plus." Noch tiefer verankern
sich ihre Blicke ineinander, wobei sie den herbeitretenden Pierre kaum
bemerken. Er stellt die Gläser auf den Tisch, legt seinen linken Unterarm auf
den Rücken und mit einer leichten Verbeugung sagt er: "Eine angenehme
Erfrischung wünsche ich Ihnen." Er verlässt die unsichtbare Blase, in der das
Paar sitzt, und Eduard reicht Alice ihr Glas. "Worauf wollen wir anstoßen?",
fragt er und lehnt sich ein Stück weit nach vorne zu ihr hin. Alice schaut kurz
verlegen auf den Boden. Sie zieht nachdenklich ihre roten Lippen zusammen,
richtet dann aber schnell wieder ihren Kopf nach oben, wobei Eduard von ihrem
aufhellenden Blick angeleuchtet und verzaubert wird. "Auf das die
Extraportionen niemals zu Neige gehen werden." Zwei Gläser und zwei Herzen
stoßen in dieser Stunde, an diesem Nachmittag, auf jenem Marktplatz aneinander
und es duftet nach Kokos und Vanille.