Es sind doch die kleinen Dinge im Leben
Manchmal steh ich wie ein Esel auf der Autobahn…
Okay, zugegeben ich bin kein Esel und ich würde mich auch nicht mitten auf eine Autobahn hinstellen und hoffentlich kommt ein richtiger Esel auch niemals in so eine Situation! Doch immer, wenn ich überlege, was ich in den vergangenen Tagen oder Wochen erreicht habe und erkenne, dass ich in der Zeit überhaupt nichts geleistet und vollbracht habe, dass absolut nichts Spektakuläres in meinem Leben passiert ist, ja dann denke ich: her je, du bist so ein Esel. Stehst einfach nur so da, lässt alles an dir hängen und kümmerst dich um nichts und niemanden. Das kann es doch nicht sein! In solchen Momenten verlässt mich mein ganzer Lebensmut, die Freude am Leben schmilzt so dahin und ich fühle mich schrecklich leer und kraftlos. Diese Augenblicke machen mir schreckliche Angst, denn ich bemerke, dass die Zeit mir davonläuft und nicht wie ein Bumerang zu mir zurückkommt. Wir können einfach nichts festhalten und alles um uns herum nimmt seinen eigenen Lauf. Menschen kommen und gehen, Tiere kommen und gehen, sogar das Ben und Jerry Eis kommt und geht. Wie soll man da denn bitte den Kopf oben behalten? Wie soll man da noch Energie oder gar Lust aufs Leben und Erleben haben? Jeden Tag aufzustehen, sich zu waschen, anzuziehen, raus in die Kälte zu gehen, in überfüllte Busse und S-Bahnen zu steigen, den ganzen Tag zu arbeiten und dann abends mit den Gedanken ins Bett zu gehen, dass das jetzt über Jahrzehnte lang so weitergehen soll. Und für was denn bitteschön? Da schnauft mein innerer Esel aber mächtig und schüttelt sich!
Wie die Autos auf der Autobahn rast alles links und rechts an mir vorbei. Diese fiese Hektik, ̶ gemischt aus Unfreundlichkeit und Gewalt, Lärm und Schmutz, Armut und Krankheit, gebrochenen Herzen und zerfallenen Seelen – sie überschüttet mich wie eine bitterkalte unberechenbare Schneelawine, so dass mir die Kraft zum Atmen ausbleibt und der Sinn fürs Lachen k.o. geht. Am Boden angekommen blickt dann meine leere Hülle auf die Menschen um mich herum. Wie schwerelos ihre Augen leuchten, wie gelassen sie aus den Türen treten und wie seltsam oft sich ihre Mundwinkel nach oben bewegen, trotz alledem. Da denke ich, komm Eselchen, wir wagen einen aufmerksamen Schritt durch diese fremdartige Masse hindurch. Wenn ich bei dieser Beobachtung meinen Gedanken eine Stimme verleihen müsste, dann wäre es die von Hugh Grant in seiner Rolle als Premierminister in dem Film Tatsächlich Liebe. Da höre ich ihn sagen, alles und jeder sei von Liebe umgeben. Mir hat der Film immer sehr gefallen. Ich steh einfach auf Kitsch. Aber es war eigentlich immer bloß ein Film, warum also Hoffnungen daraus ziehen? Tja… hätte ich das mal eher getan, das Hoffen auf die Liebe oder was es auch sein mag, dass die Welt so am Laufen und Weiterdrehen hält. So vieles habe ich in alltäglichen Ausschnitten von der Welt da draußen sehen können und mit jedem Blick ein Stück des verlorenen Glaubens an das Leben zurückerhalten. Einige wenige Momente habe ich mir auch aufgeschrieben, damit ich mich immer wieder daran erinnern und darauf besinnen kann…
Früh morgens um halb sechs sehe ich den großen Laster vor der Bäckerei stehen, beladen mit frisch duftendem Gebäck. An der Tür halb angelehnt steht der Lieferbote, der jeden Tag die Brötchen bringt. Er unterhält sich mit der Frau, die immer in der Früh alles vorbereitet und den Laden pünktlich öffnet. Ich sehe im Vorbeigehen, wie sie sich tief in die Augen schauen, einander leicht anlächeln und dann wieder verlegen zur Seite schauen. Was da auch zwischen ihnen ist, ich gehe lächelnd an ihnen vorbei, mit dem Duft von warmen Schokocroissants in der Nase und einer leichten Beseeltheit. Ein Moment der Liebe?
Mittags auf dem Weg zur Uni in der S-Bahn steigt ein älteres Ehepaar ein, denen ich den Platz frei mache und mich an die Tür stelle. Die beiden sehen müde aus und eigentlich will ich gar nicht so hinschauen. Dann fängt die Frau an in ihrer Handtasche rumzuwühlen, während der Mann teilnahmslos aus dem Fenster schaut. Die Frau zieht eine kleine Plastiktüte heraus mit gesalzenen Erdnüssen. Sie verteilt ein paar auf ihrer linken Handfläche, legt die andere Hand auf das Bein ihres Mannes und streckt ihm die Nüsse entgegen. Er pickt sie einzeln auf und auch sie nimmt sich ein paar. Beide knabbern die Nüsse, sehen aus dem Fenster in die gleiche Richtung, ohne ein einziges Wort zu sagen. Beisammen und miteinander, ein Moment der Liebe?
Um eine Abkürzung zu machen, gehe ich durch den Park. Wieder die Begegnung mit einem älteren Ehepaar. Die beiden fallen mir sofort auf, denn ihre Kleidung ist eigenartig elegant aufeinander abgestimmt. Sie kommen in ihren Lederhandschuhen händchenhaltend auf mich zu. In der jeweils anderen Hand zwischen Zeige- und Mittelfinger steckt bei beiden eine Zigarre, was dem ganzen Bild eine gewisse stilvolle Abrundung schenkt. Ein Pärchen wie aus einer vergangenen Zeit. Im Gleichschritt schreiten sie an mir vorbei, innig und nur bei sich, als gehöre die Welt nur ihnen. Ein Moment der Liebe?
Ich trinke einen schwarzen Tee in meinem Lieblingscafé an einem Samstag um 12Uhr. Viele Menschen treffen sich hier zum Brunchen und mir gegenüber setzt sich ein junges Paar hin. Beide wirken leicht verschlafen auf mich und auch ihre Haare sehen noch recht bettfrisch aus. Sie bestellen sich zwei Frühstücksplatten mit einem großen Brotkorb in der Mitte, zwei dicken Tassen Milchkaffee und bekommen dazu den Willkommens-Orangensaft. Geredet wird nicht viel an diesem Tisch, es ist vielmehr ein ruhiges Plätzchen mit einem noch im wachwerden-Modus eingestellten Pärchen. Wie sie da so sitzen, locker gekleidet, ganz für sich in ihrer Welt, kommt es mir so vor, als versinnbildlichen sie die Vorstellung vom "Morgen danach". Es rührt mich und ich schmunzle ein wenig in mich hinein, freue mich dabei auch für sie. Ein Moment der Liebe?
Die S-Bahn bleibt mal wieder an einer Haltestelle stehen und bewegt sich minutenlang kein Stück weiter. Das gibt mir Zeit auf die vorbeilaufenden Menschen zu schauen. Die Treppe hinunterrennend sehe ich fünf Jungs, die dann am Bahnsteig stehenbleiben und sich kreisförmig hinstellen, genau um den einen Jungen herum, der sein Handy in die Runde hält. Sie scheinen sich ein Video anzusehen, das genau ihren Humor trifft. Sie lachen laut, kommentieren einige Stellen und sticheln sich gegenseitig ein wenig an. Da holt einer aus seinem Rucksack seine Brotdose raus und streckt sie den anderen hin. Reste von Gummibärchen offenbaren sich und alle fünf schlingen diese zwar schnell, dennoch genüsslich und sichtlich amüsiert hinunter. Ein Moment der Liebe?
Ich laufe auf eine Treppe zu, kurz vor mir kommt eine ältere Frau um die Ecke, ebenfalls in Richtung Treppe. Sie hat eine sehr große Tragetasche in der Hand und kann dadurch nur langsam und wackelig laufen. Ich frage sie, ob ich ihr diese abnehmen und die Treppe rauftragen könne. Sie antwortet in einer mir unverständlichen Sprache, jedoch mit einem großen Lächeln auf den Lippen und weit geöffneten Augen. Wir gehen zusammen hinauf, am Ende gebe ich ihr die Tasche in die Hand. Da dreht sie sich zu mir hin, hält mich am Arm fest und sagt in englischer Sprache, sie werde für mich beten. Dabei legte sie ihre Hand auf ihr Herz, lächelt mir zu und nochmals, sie werde für mich beten. Ich bedanke mich, drehe mich um, lächle ebenfalls und gehe den Weg weiter. Eine Freude stoße ich auf einmal auf, wie Sprudelwasser. Ein Moment der Liebe?
Mittlerweile habe ich mir neue
Eiscreme von den meinen Lebensrettern Ben und Jerry besorgt und zusammen mit
dem üblichen Hirnfrost setzt sich ganz tief in mir ein Gedanke fest: wenn ich
die Welt schwarzmalen kann, dann ja auch in jeder beliebig anderen Farbe! Warum
nicht Bubblegum mäßig pink oder grellgrün wie die Haribo Frösche? Das gerade
ist doch das, was das Leben ausmacht. Die Augenblicke und seien sie auch noch
so kurzlebig, einfach am Schopf packen und drauflos malen. Denn, wenn nicht
jetzt, wann dann? Ich weiß, es gibt Zeiten für Dunkelheit und selbst diese müssen
sein und tuen auch gut. Sich von der Welt wegverkrümeln, nur für sich sein und
einfach mal den ganzen Schmerz über sich hinweg ziehen und von Kopf bis zum kleinen Zeh wirken
lassen. Ich muss mir selbst aber auch sagen, dass es die Zeit des Lichts gibt. Alles
ist zwar unberechenbar und überall schließen sich Türen, doch gehen sie ja an
anderen Stellen wieder auf. Liebe, in welcher Form sie auch auftreten mag, scheint
da ein wichtiger Schlüssel zu sein, den ich mir unbedingt an meinen
Schlüsselbund dranmachen muss! Wie Katherine Mansfield einst sagte: "Aber die
Liebe ist wie ein Licht, und nur in seinem Strahlen kann ich die Dinge klar
sehen". Und wenn ich sie im Herzen bei mir trage und mit anderen teile, was kann
mich von innen her mehr erwärmen? – noch ein Argument mehr, so viel Eis zu
essen, wie ich Bock habe! So treten Eselchen und ich nun Hand in Hand jedem Tag
mit erhobenen Haupt entgegen und tragen die Worte der Schriftstellerin Marie von
Ebner-Eschenbach im Herzen, im Kopf und in der Seele mit:
"Die Herrschaft über den Augenblick ist die Herrschaft über das Leben."
"Im Grunde ist jedes Unglück gerade so schwer, wie man es nimmt."