Fesselspiele mal anders

29.04.2024

Ob Kurte im Auto, Kondome im Bett oder der Palstek beim Segeln, ein Sicherheitsgefühl brauchen alle im Leben…

Der Bus ist voller freier Plätze, nur vereinzelt sind welche von Menschen besetzt und trotz derer Anwesenheit durchzieht sich eine Totenstille durch den Raum. Wie gerne hätte ich jetzt einfach bloß dem Motorgeräusch zugehört, aber nein, bin ja in einer E-Kutsche unterwegs. Also steck ich mir Kopfhörer in die Ohren, um der Konversation mit meinen eigenen Gedanken aus dem Weg zu gehen, kann mich aber auf kein einziges Lied wirklich konzentrieren. Wie ein unterzuckertes Wiesel drück ich den Lautstärkeregler immer weiter auf und kann nicht einschätzen, ob gleich meine Ohren oder die Kopfhörer platzen. Aber es kann gerade einfach nicht laut genug sein und für einen kurzen Augenblick scheint es zu funktionieren, denn in dem einem Beat findet sich ein Teil meiner Seele wieder und es fühlt sich nach einem loslassen an. Doch da grinst sich meine innere Unterwelt einen und ballert mit weiteren Gedankenwirbeln auf mich. Ein wahres Gefecht. Ich wende meinen Blick auf die wenigen mit mir im Bus sitzenden Dalai-Lamas und frage mich, denken die gerade auch an etwas? Und wenn ja, wie schaffen sie es an nur eine Sache zu denken? Dabei schaut mich eine ältere Dame mit zerknittertem Blick und mit nach unten gerichteten Mundwinkeln an. Oh shit, hört sie etwa die Musik? Ist es doch zu laut? Mein Finger legt sich schon schuldbewusst auf den Leiser-mach-Knopf, doch dann sprüht mir eine Hitze durch die Kehle und ich denk mir, ach du alte Krähe, schau doch woanders hin, lass mich zufrieden und kauf dir selbst welche, um deinem Udo Jürgens volles Rohr zuhören zu können. Zwei Haltestellen, dann steigt sie aus und mit ihr auch meine positiven Lebensgeister. Was fällt mir eigentlich ein, so zu denken? Wie grausam man manchmal sein kann. Zwar war ich´s nur gedanklich, still für mich allein, aber das zählt ja auch irgendwie. Man ist, was man isst, und man ist, was man denkt… na super.

Mittlerweile hör ich der leidend jazzigen Stimme von Amy Winehouse zu und fühle alles, was sie fühlte. Ihre Musik dringt tief in meine Seele ein, fängt sie auf, balsamiert sie ein und schenkt mir Trost. Sätze wie "Du weißt, ich bin nicht gut" und "einfach nur Freunde" sowie die Rede von den Tränen, die von allein trocknen, ritzen sich in mich und es wirkt, als stünde ich mit ihr in Kontakt. Das gibt mir in diesem Moment einen Halt. Zu wissen, ich bin da nicht allein, da gibt es jemanden, der alles auch so fühlen kann und Bescheid weiß. Dieser Halt bricht dann aber wieder, sobald mir der Gedanke an ihr tragisches Schicksal in die Birne schießt und damit alle roten Lampen in mir ihren Rost beim Alarmschlagen abschütteln. Immer wieder erkenne ich, verstehe ich und spüre die Kraft meines Willens, Dinge anders machen zu wollen. Es ist wie damals auf dem 5m Brett im Schwimmbad. Ich weiß, ich habe die 3m geschafft, ich weiß, dass ich die Technik drauf hab, dass ich schwimmen kann und ich weiß, es sind nur wenige Sekunden, in denen ich wirklich falle. Aber wage ich den Schritt nach vorne? Die Bauchschmerzen und das Geräusch meines "letzten" Einatmens sind mir bis heute in Erinnerung geblieben. Von dem tatsächlichen Sprung, den ich dann doch eines Tages gewagt habe, bleiben mir nur einzelne Fetzen übrig. Aber hey, ich habe es überlebt, ich bin noch da. Klischeehaft wie es sein mag, aber wie Keira Knightley als Elizabeth Bennet gehe auch ich gerne spazieren und laufe stundenlang durch die Gegend – mit oder ohne Buch. Physische Schritte nach vorne bekomm ich also problemlos hin. Jeden Tag, egal ob es stürmt oder schneit. Tja, und die inneren Schritte? Da hat sich mein Schrittzähler in letzter Zeit ziemlich auf die faule Haut gelegt. Und mit einem Mal hör ich die Stimme meines Vaters, die mich daran erinnert, dem inneren Schweinehund zu zeigen, wer hier Herr des Hauses ist. Okay, dann muss ich nur noch die passende Leine besorgen und dann geht's los, dann gehen Schweinehundilein und ich gemeinsam beim Gassi die Schritte nach vorne. Aber jetzt erstmal der Schritt raus aus dem Bus der lebenden Toten.

Von Amys Back to black lande ich bei Joan Jetts You don´t own me und verspüre, wie sich der Schwamm in mir wieder mit positiver Lebenskraft aufsaugt und die wirren Gedankengänge nachlassen. Auch dieser Song beschreibt sehr gut, wie ich einiges in meinem Leben auffasse, wie ich denke und wie ich sein möchte. Doch manchmal ist es sehr schwer, zu begreifen, wer man ist, das Erkannte dann anzunehmen und hinter all dem auch noch zustehen. Wenn ich allerdings den Blick auf die treuen Menschen an meiner Seite richte, diese vielen starken und wunderbaren Persönlichkeiten treffe und in ihre lebensbejahenden Gesichter schaue, dann fällt mir das Öffnen meines Ichs um einiges leichter und dann sehe ich mich auch so, wie ich wirklich bin. Womöglich sind gerade diese Bindungen zu Menschen jene Leinen zum Gassi gehen mit dem Schweinehund. Denn wenn ich so nachdenke, ohne gewisse Menschen wäre ich niemals so weit gekommen. Manche Leinen reißen dich zwar mit in Matschpfützen hinein und zerren dich durch dunklen Schlamm. Doch es gibt auch so viele andere, die nie reißen würden und dich über grünstrahlende Wiesen führen. Beides ist möglich und beides gehört zum Leben dazu. Das macht mir im ersten Moment ehrlich gesagt ziemlich Angst und hemmt mich, an den grünen Leinen festzuhalten. Die Zuversicht schwindet und ich spüre, wie sich die matschgetränkten Fesseln um mich schlingen wollen, um mich auf ewig am Boden festzuhalten. Mein erster Schritt wird sein, mich nicht mehr davon abschrecken zu lassen. Übung Nummer 1 lautet also, mich wie Tarzan von einem zum nächsten Ast zu schwingen, ohne auf den dunklen Boden zu gucken, und den Blick nach vorne zu richten. Tja und wenn es dann doch mal Plums macht, steht hinter mir ein großer Gorillakreis aus Familie und Freunden, der mir wieder auf die Beine verhilft und mich gegebenenfalls ordentlich durchkitzelt, um mich ans Lachen zu erinnern.