Ich schau dir in die Augen, Kleines
Ein Tagebucheintrag über das Sein mit oder Nichtsein ohne Sex…
Draußen dämmert es bereits, ein paar Vögel tanzen am
Himmel und ich liege ganz entspannt neben ihm auf der Decke. Es duftet nach Sommergras
und ein leichter warmer Wind weht mir sanft übers Gesicht. Die Musikbox spielt
einen Soul Oldie nach dem anderen ab und ich atme ganz ruhig ein und aus. Nie
hätte ich gedacht, dass es so vollkommen sein könnte, einfach bloß neben ihm zu
liegen. Ohne irgendwas in die Hand oder in den Mund zu nehmen, ohne diesen
aufregenden und nervösen "was passiert als nächstes?"-Gedanken im Kopf. Ich
lieg einfach nur da, er liegt einfach nur da, in den Himmel schauend oder mit
geschlossenen Augen, der Musik und Umgebung lauschend. Kein Stress, keine
Hektik, kein Auf und Ab. Hier und da reden wir auch, wobei die Themen eher ins Tiefgründige
übergehen. Dinge, die ich eigentlich niemanden erzählen würde und schon gar
nicht einem Freundschaft+ Typen. Aber bei ihm gleiten meine Gedanken über meine
Lippen, wie kleine Bienchen elegant von einer zur nächsten Blume schweben. Und
es fühlt sich äußerst befreiend an. Als würde mit jeder Abgabe aus meinem
chaotischen Inneren, meine Seele dem Himmel über uns ein Stück weit näherkommen.
Warum passiert das plötzlich? Wie kann aus der anfänglichen Oberflächlichkeit
zwischen zwei Menschen mit einem Mal so etwas Schönes und Tiefes entstehen?
Wird es bleiben? Mit Konzentration auf die Musik erkenne ich den Song von Bill
Withers "Just the two of us" und richte meine Aufmerksamkeit auf den Text.
Könnte das unser Lied werden? Mitschwelgend streif ich durch eine blühende
rosarote Fantasiewelt. Ich stelle mir eine Welt mit ihm vor. Bilder von
Straßen, die wir Arm in Arm oder Händchenhaltend entlanglaufen, von dem Garten
seiner Eltern, wo wir zu viert gemeinsam essen und lachen, von Zugfahrten zu
Orten hin, an denen wir gemeinsam Urlaub machen könnten, von Kissenschlachten,
die dann über ihren eigentlichen Sinn weit hinaus reichen und von intimen Augenblicken
an einem Kamin, wo ich ihn ganz tief in mir spüre und er leidenschaftlich
meinen Hals küsst. In meiner Vorstellung vergräbt sich sein Gesicht in meinem
Nacken, meine Hände liegen fest auf seinem Rücken, ich schließe die Augen und
atme schwer auf. Sein Kopf hebt sich, meine Augen öffne sich und plötzlich sehe
ich einen anderen auf mir liegen. Jener, bei dem ich zwei Tage zuvor war und
mit dem der Sex einfach unglaublich war. Was soll das? Warum wendet sich mein
Inneres so gegen mich? Alles an Beziehungskram kann ich mir mit dem wunderbaren
Mann vorstellen, der neben mir liegt. Alles… außer Leidenschaft, die ich so
sehr in meinem Leben und in meinem Herzen brauche. Warum kann er mir nicht auch
das geben? Alles andere scheint so gut zwischen uns zu passen, bloß sobald wir
in Richtung Bett marschieren, endet die rosarote Welt. Kann ich darüber hinwegsehen?
Will ich die anderen aufgeben und auf meine körperliche Befriedigung
verzichten? Wäre das Liebe? "We can make it if we try,
just the two of us" tönt es mit einem Mal und reißt mich aus dem
Gedankenkarussell. Er bemerkt mein Zucken und dreht sich zu mir. Ob mir was auf
der Leber liege, fragt er mit einem besorgten Gesicht. Oh man, seine Augen!
Meeresblaue schimmernde Klarheit. Auf der einen Seite so wunderschön und dann jedoch
erscheinen sie mir wie ein Spiegel, der mir jedes Mal zeigt, wie verloren ich
bin und wie unfair ich ihn doch behandle. So vieles möchte ich ihm sagen. Doch
die schwebenden Feen scheinen diesmal zu streiken. Ich bringe es nicht übers
Herz, ihm in diesem Moment zu sagen, dass er mich sexuell einfach nicht
befriedigen kann und das somit alles andere, was für eine Zukunft mit ihm
spräche, für mich keine richtige Bedeutung mehr hat. Nein, das kann ich jetzt
einfach nicht bringen. Nicht nach all der Zeit und nach all der Mühe und
Aufmerksamkeit, die er mir entgegenbrachte. Ich lege mich zu ihm gerichtet auf
die Seite und streiche mit meiner Hand sanft über seine Wange. Nein, alles sei
gut. Was es ja auch ist… bloß wie lange noch?
Der Traum mit den strahlend blauen Augen hielt nach dem Dämmerungsdate nicht mehr allzu lange an. An einem regnerisch grauen Tag entschied ich mich schließlich für meine sexuelle Lust, für meine leidenschaftlichen Bedürfnisse und für ein Leben ohne ihn. So bunt die Welt mit ihm auch war, ich kostümierte mein wirkliches Ich, setzte die Joker Maske auf und hätte mich beinahe darin verloren. Die Entscheidung für mich tat allerdings weh, denn aus dem schimmernden Meeresblau in seinen Augen entwickelte sich ein kaltes Grau und ich sehe jetzt noch, wie viel Schmerz ich ihm damit breitet hatte. Noch immer spüre ich Selbsthass und Zweifel und schäme mich weiterhin dafür, dass ich ihm nicht das entgegenbringen konnte, was er wollte, brauchte, verdiente, … Jedoch, wie kann ich jemanden all das geben, wenn ich es nicht mal schaffe, mir selbst Gutes zu tun? Zu erkennen, wer man ist und was man will, scheint ein sehr langer und steiler Weg zu sein. Den kann man nicht ohne die Begegnung mit anderen besteigen. Es erscheint mir, dass man, bei jedem Treffen mit einer anderen Person, sich selbst nochmal begegnet. Ob im Guten oder im Schlechten, für einen selbst lässt sich aus diesen Situationen immer etwas herausziehen. Auf die Sichtweise kommt es an. Ich kann es bedauern und darüber klagen, wie alles passiert ist, oder mich in Grund und Boden schämen und mir ein "ich bin ein böser Mensch"-Schild um den Hals hängen. Ich kann aber auch den Kopf heben, sagen, wir hatten eine schöne Zeit und wir haben das Beste draus gemacht, und mit stolzem Gefühl weitergehen, denn ich war ehrlich zu mir und zu ihm. Es kann ungemein anstrengend sein, ich zu sein. Und dann sehe ich an manchen Tagen in den Spiegel und bin froh, welches Gesicht mir da entgegen schaut.