Nicht allein sein, und doch frei sein
Diese Tage an denen dir durch schnatternde Enten, fiktiven Psychos und verstorbenen Sängerinnen ein Licht aufgeht…
Die Kirchenglocke schlägt 1Uhr. Geisterstunde. Es ist eine so friedliche Nacht, der Himmel trägt sein schönstes pechschwarzes Kleid und ich liege eingekuschelt im Bett, genieße die tiefe Ruhe. Mal absolut nichts hören und nichts sehen. Meine Augen schließen sich und ich klopfe gedanklich an das rosa Wolkentor, um in sorgenfreie Träume eintauchen zu können. Und plötzlich… Vogelgezwitscher. Ich schlag erschrocken die Augenlider auf, dreh mit voller Wucht den Kopf zur Seite, verrenke mir dabei natürlich den Hals und schaue auf den Wecker. Kurz nach 1. Das kann doch nicht wahr sein, welcher kranke Vogel fängt denn jetzt schon an zu singen? Und dann auch noch in einer Lautstärke, wo sich jede Metallband hintenanstellen könnte. Ja ich habe es verstanden, der Frühling rückt immer näher, Pflanzen, Menschen und Tiere blühen in ihrer vollen Pracht auf und stolzieren in den ersten warmen Sonnenstrahlen herum. Alles schön und gut, aber das rechtfertigt noch lange nicht, dass dieses verliebte, aufgeplusterte, rumbalzende Vögelchen seinen Liebesgesang mitten in der Nacht von sich gibt. Ewig hör ich ihm noch zu. Wenn er wenigstens was Rhythmisches von sich geben könnte, denn so wie es klingt, kann er gerade nur frisch vom Ast gefallen sein. Doch dann hör ich mit einem Mal das laute Quaken einer Ente, die heftig gegen die Töne des Vogels zu demonstrieren scheint. Das Entlein ist mir sofort sympathisch und ich stell sie mir als alte zähe Ente vor, die dem Jüngling ordentlich eins einheizt. Und es fruchtet, denn es dauert nicht lange, bis die vorherige Stille wieder einbricht. Allerdings bin ich von der ganzen Szenerie so gefesselt und finde nur schwer wieder zurück in den Schlaf. Wirbelnde Gedanken rund um Liebe und Beziehung verknoten sich in meinem Kopf und ich frage mich, wann und weshalb sich in mir eine solch große Mauer aufgetan hat, die jegliche Begegnungen und Momente der Liebe abwehrt? Zig Situationen strömen mir durch die Gehirnzellen und lassen all die negativen, emotional schweren Ereignisse hochkommen, die mir durch die Adern fließen. Dabei kann ich nicht einschätzen, ob ich traurig, wütend oder enttäuscht bin. Ich spüre bloß den riesengroßen Druck auf der Brust und das dicke Fragezeichen auf meiner Stirn. Was will ich eigentlich vom Leben? Wie soll meine Zukunft aussehen? Mit einem Menschen, bis das der Tod uns scheide oder doch nur ich für mich allein? Die Fragen lösen sich in dieser Nacht nicht auf und so tappe ich am nächsten Morgen mit einem flauen Magengefühl und runzeliger Stirn zur Kaffeemaschine. Wie wohl der Morgen ausgesehen hätte, wenn die verknallte Drossel asexuell gewesen wäre? Herrlich, dieser Frieden. Aber halt mal, so ganz ohne sexuelle Leidenschaft? Oh nein, das wünsche ich weder mir noch diesem kleinen zarten Flieger, der es ja eigentlich nur gut meinte. Wie also soll Liebe für mich aussehen? Mit Blick in die Tasse ist mir eins sofort klar: die Liebe zum ersten Schluck Kaffee am Morgen wird niemals enden.
Es erstaunt mich immer wieder, wie sehr sich bestimmte Orte, Gerüche, Songs, Filme und kulinarische Gerichte an Erinnerungen fesseln können und die es einem dadurch schwer machen, nicht an vergangene Trennungen zu denken. Irgendwann sind dann gewisse Plätze, Wege oder auch Kleidung absolut tabu, denn du erinnerst dich direkt an den Schmerz, den du dabei empfunden hast. Gut, es gibt auch diese Ausnahmen von Menschen, die dann nur an das Positive der vergangenen Beziehung denken, aber zu denen zähle ich nicht. Sei es das Einsteigen in die U-Bahn, mit der ich immer zu ihm gefahren bin, das Essen im Restaurant, wo wir das erste Mal zusammen aßen, die Flasche Parfüm im Regal von Douglas, die ich ihm schenkte oder der Slip, den ich beim ersten Mal trug. Immer wieder ist es ein Schlag ins Gesicht und das Kopfkino spielt in Dauerschleife all seine Horrorgeschichten ab. Was tu ich dagegen? Naja, ich könnte ins Kopfkino die Langnese Werbung einblenden, um es wenigstens etwas angenehmer zu machen. Oder gleich alles überspielen? Ach nein, eigentlich ist es doch wichtig, dass es immer wieder hochströmt. Nur so geht ja das Verarbeiten, nur so wird's auf der Seele etwas leichter und nur so nimmt der Druck auf der Brust ab. Aber verdammt noch eins, welche Kuh wiederkäut das Gras denn bitte über zwei Jahre lang? Irgendwann muss es doch mal durch sein! Es macht mich manchmal so rasend, dass ich oft dazu neige, gar niemanden mehr an mich ranzulassen. Wenn ich überlege, wie ich als Kind war, dann betrübt mich mein heutiges Spiegelbild. Und ach, wo ich gerade bei Spiegeln bin, da kommt mir doch gleich der Gedanke an den Blick in den Spiegel an jenem Morgen nach unserer dritten gemeinsamen Nacht. Gebrandmarkt wie ein Kälbchen steh ich da nackt, mit großflächigen, blaugrünlila farbenden Knutschflecken am Hals und bekomm vor Schreck kaum noch Luft. Nie habe ich mich so erniedrigt gefühlt. Diese Flecken haben mir eine enorme Angst bereitet und da bin ich an einen Punkt gekommen, wo Liebe für mich nicht mehr das Abbild der blumig-rosaroten-Disneyprinzessinnen-Welt war. Oh nein, sie wurde Sinnbild für etwas gewaltvolles, dem Erdboden gleichmachendes. Ein Azog der Schänder, der auch mit nur einem Arm alles niederwalzt, was ihm in die Quere kommt. Der monogamen Beziehungsliebe drehe ich mit jedem weiteren Tag den Rücken zu, verkrieche mich hinter den Bildschirm und sehe die lebensfrohe und stolze Samantha Jones in einer Sex and the City Folge, die niemanden mehr als sich selbst, ihre Freundinnen und ihr Leben liebt. Würde ich mehr Menschen kennen, die auch so empfinden wie ich und den Sinn für sexuelle Offenheit teilen, dann würde ich mich eventuell nicht immer so schlecht damit fühlen und das Schild "Hallo, ich bin eine einsame Wölfin und stolz darauf" leichthändig und voller Freude hochhalten. Nicht, dass ich mich für die in Zweisamkeit liebenden Menschen nicht freue, ganz im Gegenteil. Bloß würde ich es sehr schätzen, wenn sie mir das gleiche Maß an Respekt entgegenbringen, wie ich ihnen. Es gibt nichts Qualvolleres als in auf-einen-hinabschauende Augen zu gucken.
Und wenn ich mal nicht in der fiktive Carrie Bradshaw Welt stecke, dann sitze ich in einem meiner tausend Lieblingscafés, trinke Tee und lese. Statt der üblichen Literatur für die Uni ist es diesmal ein Liebesroman, der mir von einem ganz wichtigen Menschen empfohlen wurde. Es ist die Geschichte einer brutalen und sich selbst verletzenden Liebesbeziehung, bei der ich im Nachhinein an mancher Stelle definitiv was stärkeres als Tee gebraucht hätte. Relativ in der Mitte stolpere ich über einen Satz, der sich ganz tief in mich hinein ritzt: "weil er mich hält, ohne mich festzuhalten, und ich zum ersten Mal frei atmen kann". Wie es der Zufall will, spielt das Radio des Cafés in diesem Moment den Song "Rote Rosen" von Hildegard Knef ab und ich höre die Stelle heraus, in der die wohltuend tiefe Frauenstimme zu mir spricht: "nicht allein sein, und doch frei sein!". Da wird's mit einem Mal ganz leer in meinem Schädel und so ruhig in meiner Bauchhöhle. Genau das ist es doch, so will ich leben, lieben und lachen. Nicht immer nur grübeln, sich schwarzärgern und tieftraurig sein. Aufgetankt mit dieser großen Erkenntnis und dem kleinen inneren Schritt in Richtung glücklicher Zukunft, geh ich zur Theke und bestell mir zur Belohnung einen saftigen veganen Brownie. Zurück am Platz bemerk ich die vierköpfige Familie neben mir, von deren Anblick mir leicht übel wird. Und instinktiv wird mir deutlich, so wie diese Familie ihr Glück definiert und miteinander teilt, so wird meine Art und mein Verständnis von Glück niemals aussehen und das ist überhaupt nicht schlimm. Annette Droste-Hülshoff sagte "denn wer nach seiner Überzeugung handelt, und sei sie noch so mangelhaft, der kann nie ganz zugrunde gehen". Also warum noch Angst davor haben, so zu sein, wie es mir mein Inneres deutlich machen will.
Mit angenehmem Schokoladengeschmack im Mund und leicht
beschwipst von Erleuchtung, geh ich durch die Straße und könnte lauthals vor
lauter Glück über meine Entscheidungsfreiheit zwitschern und quaken zugleich!