Perfektion, ein Seelentod
Wenn Oma die bösen Geister der Vergangenheit mit Nutella besiegt…
Es vergeht kein Tag, an dem mir keine Warum-Frage ins Gesicht geschossen wird. "Warum lächelst du? Warum machst du das jetzt erst? Warum willst du nicht mitkommen? Warum zierst du dich so?" Warum geht es dir nicht gut?" Warum hast du keine Lust?"… Kein Tag ohne dieses Wort oder einer sonstigen Frage. Alle wollen immer über alles Bescheid wissen, für alles muss man sich erklären und rechtfertigen. Ich bin mir sicher, dass das alles in der Schule angefangen hat, als es plötzlich hieß, "jetzt schaut euch mal genau diesen Operator am Anfang der Aufgabe an. Was genau sagt der, was ihr jetzt tun müsst? Denn "Erklären" ist ja nicht das gleiche wie "Erläutern" und bei "Begründen" müsst ihr anders vorgehen als bei "Argumentieren". Wenn ihr die Regeln der Operatoren nicht befolgt, dann gibt das Punktabzug". So ein Mist, der da einem eingepflanzt wurde. Natürlich ist vieles auch wichtig gewesen, keine Frage. Ein Leben ohne Bildung, um Himmels Willen! Aber manches hat sich eventuell zu tief in mich hineingegraben und festgesetzt. Alles perfekt, ordentlich und rechtzeitig machen, der Druck, nur grüne Häkchen und keine roten Kreuze auf der Arbeit zu erlangen und die Panik, die Eltern werden informiert und dann wissen sie, dass man so versagt hat. Dieser Zirkus verfolgt mich heute noch und nimmt mir unfassbar die Kraft und die Fähigkeit für ein "Einfach-so" Leben. Einfach so in den Tag hineinleben, einfach so mal halbe Stunde länger liegen bleiben, einfach so mal spontan mit Freunden treffen, ohne an die To-Dos von Morgen zu denken und einfach so mal das Glück auf einen zukommen lassen, und nicht dafür kämpfen und arbeiten müssen. Einfach so leben, wie man es früher so problemlos tun konnte. Jetzt ist alles anders. Ich kann nicht ohne an das Morgen denken, ich kann nicht liegen bleiben mit dem Wissen, da ist noch Zeug zu erledigen, ich kann nicht gut spontan "Ja-sagen", ohne mindestens 1672-mal drüber nachgedacht zu haben, ob ich mir das wirklich leisten oder erlauben kann. Und zu einem "Nein" bin ich keinesfalls fähig. War ich noch nie. Schon früher nahm ich immer eher die kopfgeneigte "Ja-und-Amen" Gestalt an, die zwar eine eigene Meinung hatte, aber, um des Friedens willen, diese nicht immer aussprach. Wundert mich nicht, dass ich im Politikunterricht bei den "Diskussions-Übungen" immer furchtbar angespannt und nervös war. Andererseits macht es mich rasend, dass ich das nicht gut kann und Schwups, kommt man dem eigenen Selbsthass wieder ein Stück weit näher in die Arme zugelaufen.
Es kommt immer häufiger vor, dass ich schweißgebadet und mit einem sich wirr drehenden Gedankenkopf mitten in der Nacht wach werde. Aus der Traumwelt gerissen und wieder bei Bewusstsein, nehme ich zusätzlich das Aufkommen von Ängsten in meinem Bauch wahr. Angst, was morgen auf mich zukommen wird, Druck, was ich alles zu tun habe und Panik, dass ich etwas davon nicht erreichen kann. Es folgt ein gefühlt stundenlanges Herumwälzen im Bett, um endlich die Position des Wiedereinschlafens zu finden. Wie kaputt ich dann morgens aufwache, erstaunt mich immer wieder aufs Neue. Würde mich jemand fragen, was ich die Nacht getrieben habe, so würde ich viel lieber die Story einer wilden Partynacht erzählen und nicht die langweilig monotone Geschichte meines wahren Lebens. Dabei war ich nicht immer so, wenn ich an das tanzende, lebenslustige Mädchen zurückdenke. Aber die scheint in einem tiefen Winterschlaf in mir zu schlummern. Und wie es bei Bären und ihrem Höhlen-Winterschlaf so ist, wage ich es nicht, sie aufzuwecken. Denn was würde dann passieren? Wenn ich mal alles stehen und liegen lasse? Für einen Tag oder auch mal zwei… nein, da steigen in mir direkt schallende Panik und glühend heißer Zeitdruck hoch. Dieses krankhafte Denken nimmt einen großen Raum in meinem Leben ein. Egal wo ich hinsehe. Im Kopf, im Herzen und in der Seele. Es frisst sich durch mich hindurch, wie die kleine Raupe Nimmersatt. Bloß, schaff ich eine Besserung und eine Wendung? Könnte doch noch ein schimmernd fliegender Schmetterling aus mir werden? Der dann auch problemlos ein "grund- und bodenloses" Leben führen kann. Freifliegend und schwebend. Oder bleibe ich ewig in diesem Perfektionsstrebendem Kokon stecken? Werde ich immer auf dem Boden der Tatsachen bleiben? Ehrlich, dafür sind doch die 20er garnicht da, oder? Wenn ich meinen Eltern und Großeltern zuhören, dann mach ich´s definitiv verkehrt. Ich will doch wie sie später auch mal solche Storys erzählen können und grinsend stolz zurückschauen.
An einem Nachmittag, wo zwar draußen die Maisonne schien und die Vögelchen verliebt einander zu zwitscherten, tobte in meinem Zimmer ein dunkelgrauer Sturm aus dicken Wolken und die einzigen, die Töne von sich gaben, waren die bösen Geister, die ich rief. Und zu denen würde sich nicht mal Bill Murray dazugesellen wollen. Wie der Zufall oder das Schicksal es wollten, leuchtete mein Handy mit einem Mal auf. Oma dachte an mich. Ich nahm den Hörer ab und schon der Klang ihrer ersten Worte fühlte sich an wie eine Voltaren Salbe für die Seele. Wohltuend und wärmend. Aus meinen ersten Worten heraus bemerkte sie Sherlock Holmes artig direkt, dass was nicht stimmte. Wie Omas das eben draufhaben. Es fiel mir nicht leicht, überhaupt zu begreifen, was eigentlich los war und es war umso schwerer, Oma nicht in Besorgnis zu versetzen, ihr keinen Kummer zu machen, denn den sollte sie doch nicht um mich haben. Aber Oma ist keine Frau, die sich abwimmeln lässt. Liebevoll und behutsam, als säße sie neben mir, ging sie auf mich ein. Sie erzählte mir die "Als ich so alt war wie du jetzt"-Geschichten und Ereignisse aus ihrer Zeit. So langsam brach damit die dicke Eisscholle in mir und ich erzählte ihr dies und jenes, worüber sich meine Gedanken und Ängste kreisten. Entgegen meiner Erwartung antwortete sie mir in einem optimistischen und selbstsicheren Ton, sagte mir, dass es für mich wieder bergaufgehen werde, denn sie wisse, was in mir stecke. Es waren keine öden "Alles wird wieder gut"-Parolen, die sie mir durchs Telefon gab. Nein, es waren klare Wahrheiten, herzergreifende Beispiele und kopfhebende Strategien. Früher war es ein liebevoll dick beschmiertes Nutella Brot, was man als Seelenpflaster von ihr bekam. Diesmal waren es tiefe Einblicke in das Leben meiner Oma, die sie mir offen und ehrlich anvertraute und mit auf den Weg gab. Aber klar, wäre die weite Entfernung in diesem Moment nicht zwischen uns gewesen und ich wäre bei ihr, dann hätte es auch Nutella Brot dazu gegeben. Mit einer abschließenden Aufforderung, ich solle mir jetzt einen Tee machen, verabschiedeten wir uns voneinander und ich legte auf. Vom Wasserkocher zurückgekehrt, kam ich mit einer Tasse Tee wieder ins Zimmer rein, schloss die Tür und blieb einen Augenblick stehen. Keine Wolken, keine Geister, kein Druck mehr auf der Brust. Wahnsinn…
Ich denke, ein Satz aus dem Telefonat mit meiner Oma wird mir für immer im Gedächtnis bleiben. Sie sagte, "denk immer daran, man hat das Leben nur einmal im Körper". Diese einzelnen Worte waren es, die Rocky-Stallone mäßig die dicken schwarzen Wolken in die Ecke zurück boxten und meine Seele aufatmen ließen. Daran werde ich festhalten und versuchen, für mich, mein Leben und meinen Körper aufmerksamer da zu sein und behutsamer mit ihnen umzugehen. Denn, das habe ich verdient… und das bin ich auch wert!