Phil

01.07.2024

Zwei Männer und rauchende Liebe…


Vertieft in die Epilog Melodie aus Lala Land, ließ Phil kopfgesenkt die Finger über die Tasten seines Klaviers gleiten. Mit jedem Ton, den er spielte, lockerte sich ein Knoten nach dem anderen in seiner Brust und er besann sich auf seinen wiederkehrenden Atem. Ihm liefen die Tränen, er lachte, runzelte die Stirn, verzog das Gesicht und Schweiß breitete sich in seinem Nacken aus. Tiefer und immer stärker wurde er eins mit der Musik. Als würden sie sich beide verschlingen, lustvoll am Fleisch des anderen reißen, umhüllt von tiefschwarzer Dunkelheit. Phil fühlte einen stechenden Schmerz, der sein Inneres zum Strahlen brachte. Er löste sich darin auf. Er fand Frieden, einen kurzen Moment des Stillstandes. Den letzten Klang inhalierte er tief in seine Seele hinein, warf dabei den Kopf in den nassen Nacken, schloss die Augen und ließ alle angespannten Gesichtsmuskeln los. Langsam atmete er durch den Mund wieder aus, richtete seinen Kopf geradeaus und sah auf den leeren, elegant lackierten Tresen der Bar. Der dort stehende ältere Barmann fing seinen Blick auf, zog die Augenbrauen mitleidig hoch und nickte Phil sanft zu, während er einzelne Gläser polierte. Der Klavierspielende erinnerte sich an die alten Westernfilme, die er mit seinem Großvater immer nachmittags am Donnerstag zusammen gesehen hatte. Der ältere Herr ihm gegenüber ähnelte sehr seinem damaligen großen Idol Mario Adorf. Wie hatte er diese Zeit mit seinem Großvater geliebt. Es waren diese Ausbrüche in fantastische Welten, die ihn am Leben hielten. Schon immer hatte Phil Schwierigkeiten, der Realität standzuhalten. Zu oft geriet er mit seinem direkten Umfeld in Konflikte und vergrub sich, schottete sich von allen ab, egal ob von Familie oder Freunden. Die Musik gab ihm Halt, in ihr fand er sich wieder. Nach dem Tod seines Opas war sie zum einzigen Zufluchtsort für ihn geworden. Er lebte nur mit ihr und nur durch sie konnte er am Leben bleiben.

Der Barmann kam mit einem Tablett auf Phil zu. Sein Gang war ruhig und er roch nach Tabak. Auf dem kleinen Nebentisch am Klavier stellte er zwei bemusterte Whiskey-Rocks-Gläser hin, schenkte jeweils einen ordentlichen Schluck Irish Single Malt Whiskey ein und setzte sich daneben auf einem Hocker hin. Beide schauten auf die Gläser. Der ältere Herr griff in die Innentasche seines schwarzen Jacketts, holte zwei Zigarillos raus, wovon er eine Phil entgegen reichte. "Franz Liszt sagte mal, gute kubanische Zigarren würden die Türen vor der Gemeinheit der Welt verschließen", sprach der Alte. "In den Genuss von solchen Zigarren bin ich nie gekommen", merkte er an, während er sein Klappfeuerzeug hervorholte. Darauf befand sich eine Gravur mit einzelnen Wörtern und einem Datum. Phil nahm die angebotene Zigarillo an und beide atmeten den ersten Zug in Stille tief ein. Das Schweigen verteilte sich wie der Rauch der Zigarillos um die beiden Männer herum. Sie sahen einander nicht an. Ohne sich im Zugzwang zu fühlen und mit tiefer Stimme fragte Phil: "Und in den Genuss von verschlossenen Türen, konnten Sie diesen für sich finden?". Er fand Gefallen an dem Geschmack in seinem Mund sowie an der altmodischen Atmosphäre, die sich in diesem Moment im Raum aufbaute. Es war, als säße sein Großvater bei ihm, als würde die Welt nur aus dieser alten Jazz Bar bestehen und als würde es weder Regen, Sonne noch Wind geben. "Verschlossene Türen", wiederholte der Herr nachdenklich und mit gesenktem Blick. "Oh ja, die fand ich allerdings", äußerte er in einem leicht betrübten Tonfall und er griff nach dem Whiskey Glas. Phil sah ihn an. Er muss früher ein stattlicher Mann gewesen sein, dachte er. Seine Gesichtszüge waren auffallend symmetrisch, seine Augen leuchteten in einem hellen Blau und seine Haare hatten an Fülle nicht eingebüßt. Die Falten schmeichelten ihm, wie auch der schwarze Barkeeper Anzug und seine besonnene Ausstrahlung rundete das Bild eines Gentlemans vollständig ab. Doch wie war ein Mann wie dieser zu einer Stellung als einfacher Barmann gekommen? Wo er doch allen Anschein nach viel mehr hätte sein können. Mit diesem Clint Eastwoods Aussehen und jenem Charme Robert Redfords hätte er doch sicherlich ein Leben wie Hugh Hefner haben können. Stattdessen putzte er Gläser und blieb im Schatten seines sauber gehaltenen Tresens. Noch bevor Phil sich in seine Gedanken vertiefen konnte, unterbrach der Alte ihn. "Dies ist mein liebster Whiskey, probieren Sie ihn, ich bin mir sicher, er wird auch Ihnen munden". Und das tat er. Vielmehr noch. Mit dem Schluck Whiskey entfalteten sich in Phils Mund, Kehle und Bauch nicht nur eine angenehme Wärme, sondern auch ein Gefühl des Ankommens, das er sich nicht erklären konnte. Es erdete ihn. Der Barmann sah ihn an, schmunzelte leicht und sprach: "Damals als recht junger Bursche habe ich mit meinem besten Freund diesen Whiskey probiert. Wir stahlen eine Flasche aus der heiligen Bar seines Vaters, liefen bei Sommerdämmerung zur alten Holzbank am See und haben jeden Tropfen davon genossen". Phil lehnte sich ans Klavier und hörte dem Alten aufmerksam und interessiert zu. Sein zuvor hitziges, gefühlsbeladenes Schwelgen am Klavier schien weit vergangen zu sein und er verspürte ein dankbares Gefühl. Dankbar für diesen Menschen. "Oh ja, daran werde ich mich immer erinnern. Und jede Tracht Prügel war es wert, diese Flasche mitgenommen zu haben". Sein Kopf senkte sich, ebenso die Mundwinkel und seine Stirn runzelte sich. "Damals rauchte ich noch nicht", sprach er. "Nach unserem Franz Liszt zufolge, hätte ich dies wohl besser tun sollen". Phil stutzte innerlich und richtete sein Gesicht unbewusst ein Stück weit näher zum alten Mann hin. Fragend schaute er diesen an, wollte darauf eingehen, weshalb er dies so empfinde, doch versagte ihm seine Stimme. Paffend saß der Herr im schwarzen Anzug da und seinem Gesichtsausdruck nach, schwelgte er nachdenklich in seinen Erinnerungen. Phil selbst hatte erst kürzlich das Rauchen für sich entdeckt und war erstaunlicherweise froh, nicht zu früh damit angefangen zu haben. Er fragte sich, was so schlimm gewesen sein könnte, dass ein Junge so früh den Wunsch nach Zigaretten hat. Oder in diesem Fall, der Wunsch nach verschlossenen Türen. Phil hatte den Eindruck, dass der gutaussehende Gentleman womöglich doch mehr erlebt und gelebt hatte, als er anfangs dachte. Denn hinter seiner ausstrahlenden Ruhe, hinter diesen unschuldig wirkenden hellen Augen, da sah Phil ein dunkles Meer von Traurigkeit, Schmerz und Verletztheit. Oder lag das alles nur an dem einen Schluck Whiskey? "Ihr Feuerzeug gefällt mir", begann Phil. "Die Gravur darauf, erlauben Sie mir zu fragen, was es damit auf sich hat?". Der Barmann nahm das Feuerzeug in die Hand, sah die Gravur und strich mit dem Finger darüber. "04.08.1948", sagte er. "An diesem Tag begann ich zu leben". Er reichte es dem Klavierspieler hin und Phil las die eingravierten Worte: Ein ewig Wir am See. Phil sah hinauf. "Nicht nur die Lust am Whiskey fand ich an jenem Abend. Oh nein, so vieles mehr liegt an diesem Ort", sagte der Barkeeper. "Was ist aus diesem Mehr geworden?", entfuhr es Phil aus tiefster Seele. Mit feuchten Augen sprach der Alte: "Begraben. Ich habe es für eine viel zu lange Zeit begraben". Phil neigte den Kopf, sah in sein Glas und nun wurden auch seine Augen feucht. Er verstand es. Er fühlte es mit, denn noch vor wenigen Stunden hatte er selbst sein eigenes tiefes Loch gegraben. Sein innerer Vulkan bereitete sich erneut zum Ausbruch vor. Der Barkeeper erkannte dies intuitiv und ergriff das Wort. "Mein Herr, wenn ich so forsch sein darf, hören Sie mir bitte aufmerksam zu", sagte er und schaute Phil dabei direkt in die Augen. "Lassen Sie die Liebe zu. Sie ist das Einzige auf dieser Welt, dass das Leben lebenswert macht. Ergreifen Sie diesen Schatz, fühlen und genießen Sie es und lassen Sie sich von keinem diese Kraft nehmen". Der Mann stockte, sah auf das am Tisch liegende Feuerzeug und sprach erneut: "Schließen Sie sich mit Ihrer Liebe ein, egal, wer es auch sein mag. Tun Sie alles, für Ihr Überleben in einer Welt wie dieser". Phil brach ein und es glitten ihm Tränen über seine Wangen. Zeitgleich gaben sich beide die Hände. Die Energie floss über und ihre Herzen spürten den Schmerz des jeweils anderen. "Haben Sie ihren Freund nach diesem Abend je wiedergesehen?", fragte Phil und griff noch beherzter die Hand des Alten. "Nein, niemals wieder", antwortete dieser. "Beide wurden wir von unseren Vätern wegen des Alkohols verprügelt, doch schlug sein Vater so sehr zu, dass Henri die Treppe runterfiel und sich das Genick brach. Erst eine Woche später erfuhr ich davon". Zitternd nahm er das Glas Whiskey, trank einen Schluck, stellte es ab und legte seine Hand wieder behutsam auf Phils. "Mein Leben war vernichtet worden, durch einen einzigen Schlag. Keiner verstand mich, geschweige denn sorgte sich um mich. Ich hatte alles verloren, nur der See blieb mir noch". Die Zigarillos qualmten nicht mehr, doch die zeitlose Atmosphäre des Raumes blieb bestehen. "Wenn ich so frei sein darf, ich glaube, Ihr See ist die Musik". Der Mann traf damit tief in Phils Herz und er spürte einen warmen inneren Kraftfluss. Es war noch nicht alles verloren. "Sie spielen mir aus der Seele, wenn ich das so sagen darf. Stundenlang hätte ich Ihnen zuhören können". Phil sah auf seine Armbanduhr, die er von seinem Onkel geerbt hatte, der auch viel zu früh durch einen Motorradunfall ums Leben kam. Die Sonne würde bald aufgehen, so lange hatte er gespielt. Oder hatte er sich so lange mit dem Herrn unterhalten? "Es ist niemals zu spät für einen Liebesbeweis", sprach der Alte und hob sich vom Hocker hoch. "Gehen Sie zu ihm und sagen Sie ihm mit der Melodie Ihres Herzens, was sie empfinden". Er stellte die leeren Gläser und den Aschenbecher auf das Tablett, nahm es in die Hand, drehte sich langsam um und verschwand hinter dem Tresen.

Phil ordnete gedanken- und gefühlsversunken seine Notenblätter, stand auf und zog sein Jackett an. Wie kalt ihm vom Schweiß geworden war, hatte er gar nicht bemerkt. Er ging an der Theke vorbei, vom älteren Barkeeper war nichts zu sehen. Nach dem ersten Schritt aus der Tür blieb er kurz stehen, schlug den Kracken seines Mantels hoch, zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug und atmete langsam in den Morgenhimmel hinein aus. Die Straße war grau und menschenleer. Nur aus der Bäckerei gegenüber nahm er ein Anzeichen von Leben wahr. Ein strammer Lieferjunge lud die frischen Backwaren aus und brachte sie rein, wo eine ebenso junge und hübsche Verkäuferin sie entgegennahm. Ob Martin und er sich jemals auch wieder so frischverliebt anschauen würden, fragte er sich und sein Magen knurrte in diesem Moment. Oder knurrte sein Herz? Erschrocken von der knarrenden Tür hinter ihm, ließ er die Zigarette fallen, drehte sich um und sah den Barkeeper, wie dieser die Tür abschloss. Schüchtern senkte Phil den Kopf und steckte sich erneut eine Zigarette in den Mund. "Erlauben Sie", sagte der Mann und hielt ihm die Flamme seines Feuerzeugs hin. Auch der Alte sah dem Tagesanbruch entgegen. Ruhig stand er da, legte die Hände gefaltet auf seinen unteren Rücken. "Jeden Morgen sehe ich die beiden Turteltauben da drüber. Es sind schon zwei Jahre vergangenen und keiner hat bisher den Schritt über ein bloßes 'Guten Morgen' gewagt". Phil zog an seiner Zigarette, warf sie auf den Boden und trat sie aus. Er drehte sich zu dem Alten hin, der gleiches tat. Sie gaben sich die Hand und Phil fühlte trotz der dunklen Lederhandschuhe, die der Mann stilvoll zu seinem Hut trug, dessen wärmende Energie. "Ich danke Ihnen für", er stockte einen Moment lang, denn er wusste nicht recht, wie er all der Dankbarkeit, die er in diesem Augenblick verspürte, Ausdruck verleihen sollte. Er wollte erneut ansetzen, doch der Mann unterbrach ihn: "Aber bitte, mein Herr, für nichts müssen Sie sich bei mir bedanken. Es war für uns beide eine lebensspendende Nacht, sofern ich dies behaupten darf. Das sollte wohl so sein", sagte er und neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. "Haben Sie je einen anderen Henri finden können?", fragte Phil offen und frei heraus. "Nein, nie wieder", sagte der Alte. "Aber einen Paul. Über dreißig Jahre ist es schon her und ich liebe ihn jeden Tag aufs Neue". Ihre Hände lösten sich voneinander. Phil steckte seine Hände in die Taschen seines Mantels und richtete sein Kreuz auf. "Ich werde mich nun auf den Weg machen. Wäre gut, ein eigenes Feuerzeug zu haben", sprach er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen und sah in das ebenfalls lächelnde Gesicht des Barmanns. Mit gegenseitigem Nicken verabschiedeten sie sich, der ältere Herr ging nach rechts die Straße runter und Phil nach links. Der erste Sonnenstrahl leuchtete ihm vom Horizont aus in die Augen. Kein Gedanke ging ihm mehr durch den Kopf. Alles, was er wahrnahm, waren das Licht des neuen Morgens und die Musik in seiner Seele.